Was denken die Deutschen von sich selbst?
Ein Beispiel für das Ringen mit der Vergangenheit ist das Lied „Deutschland” von Rammstein. Starke Rockmusik, das Video zeigt die Geschichte des Hermann des Cheruskers, des Bezwingers der römischen Legionen, bis hin zum Erhängen der jüdischen Häftlinge. Alles ist hier gewaltig: mächtig und voll Heftigkeit. Flammen, Blut. Düstere, wagnerianische Stimmung. Man kann sehen, wie schwer es für diese Leute ist, Frieden zu finden. Da brodelt etwas unter der Oberfläche, viel ist unterdrückt und verschwiegen. Wie in einem mit einem schweren Deckel zugemachten Kessel, in dem sich Druck aufbaut.
.Am Sonntag 26.9.2021 steht Deutschland vor der Bundestagswahl. Wie viele sagen – eine Schicksalswahl. Wie steht es mit der deutschen Seele? Vor einem Jahr feierte Deutschland den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung. Traurig. Einige Titel: „Was ist los?“, „Kaum erklärbare Traurigkeit“- alles in der Mitte versteckt, selten etwas auf der Titelseite. Fluchten aus der DDR, rostige Trabis. Wenn so das Feiern aussieht, wie muss dann die Trauer sein?
Charakteristisch ist das Video des (ziemlich vulgären) Satirikers Jan Böhmermann „Be Deutsch“. Es beginnt mit der Kristallnacht, dann hören wir, dass die Deutschen wieder aufwachen, aber diesmal sind sie fucking nice, stolz, weil sie nicht stolz sind. Empathisch und multikulturell. Alles in einem beängstigenden Ton gesungen. Ein fieses Mädchen (jedes zweite Wort: fuck) lädt ein: „Read Kant, cunt!“ (siehe Wörterbuch). Sogar mit dem kategorischen Imperativ kann man einem Fremdenhasser in die Schnauze hauen.
Und alles begann mit den Träumen von Größe. 1912 befasste sich der Kavalleriegeneral Friedrich von Bernhardi in seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg“ mit dem Titelthema. Er diskutierte über organisatorische und technische Fragen, philosophierte über das Recht und sogar die Pflicht, Krieg zu führen. Essentiell scheinen die Kapitel über Deutschlands historische Mission, die sich auf folgende Alternative reduziert: Weltmacht oder Zusammenbruch. Deutschland hat zweimal versucht, eine Weltmacht zu werden, beide Male endete es mit dem Zusammenbruch. 1945 schließlich schlug die Stunde Null. Wie weiter?
Saul Padover, ein Psychologe in der Uniform der US-Armee, hatte die Aufgabe, in der Endphase des Krieges die Mentalität der Deutschen zu ergründen, damit die zukünftigen Besatzungsbehörden wüssten, wie sie mit ihnen umgehen sollten. In Wien in einer jüdischen Familie geboren, sprach er perfekt Deutsch und kannte Deutschland aus der Zeit vor dem kollektiven Wahnsinn. Sein erster Eindruck war: überraschend gut gekleidete und ernährte Menschen auf den Straßen – und das nach fünf Jahren Krieg. Die Versorgung funktionierte bis zuletzt, auf Kosten der eroberten Völker. So entstand die langanhaltende Erinnerung, wie gut es unter Hitler war. Bei den jungen gefangenen Soldaten stieß er auf grenzenlosen Fanatismus. Dies war eine Generation, die vollständig von der Hitlerjugend und der Wehrmacht erzogen wurde. Die Klügeren von ihnen hatten schon trainiert, was sie sagen sollten, um nicht als Nazis erwischt zu werden, aber in den langen Gesprächen kam das Alte heraus. Als sich herausstellte, dass sie mit einem Juden sprachen, wurde die Situation peinlich. Und selbstverständlich wusste kaum jemand von den Verbrechen, und wenn er doch daran teilnahm, befolgte er nur Befehle. In den Schlusssätzen stellt Padover fest, dass die Deutschen nicht zur Gemeinschaft der Nationen gehören, sondern zu einer anderen, verfluchten Rasse, und er betet, dass die kommende Generation die deutsche Schuld erlösen kann.
Es musste also die Entnazifizierung erfolgen, die von den Besatzungsbehörden überwacht wurde. Allerdings war sie ziemlich begrenzt – 8 Millionen Mitglieder der NSDAP sind schwer aus der Gesellschaft auszuschließen. Die Kriminellen haben sich in der Menge aufgelöst, waren nicht mehr sichtbar.
Es war eine „kalte Amnestie“, wie es Jörg Friedrich nennt. Ein KZ-Häftling konnte nach seiner Rückkehr im Amt einen ihm bekannten Gestapo-Mann treffen, schon in die neue Uniform gekleidet. In der Justiz hat man nicht die radikale Methode von Che Guevara (alle an die Wand) verwendet, sondern hat man sich für die „Rechtsstaatlichkeit“ entschieden. Dank dieser Milde dominierten dort jahrzehntelang Mitglieder der NSDAP, weswegen Kriegsverbrecher wie Heinz Reinefarth, der Henker von Wola (Warschau) jahrelang ruhig schlafen konnten. Erst 1963 begannen die Auschwitz-Prozesse, und dies nur dank der Tatkraft des Staatsanwalts Fritz Bauer, eines Juden und ehemaligen Häftlings.
Die Täter rechneten ab 1965 mit der Verjährung, 20 Jahre nach dem Krieg. Wahrscheinlich haben sie im Wirrwarr des Lebens sogar die alten Zeiten vergessen. Die Auschwitz-Prozesse haben in Deutschland eine intensive Auseinandersetzung mit dem Völkermord, der Verjährung und der alten Schuld ausgelöst. Nicht nur mit der Schuld von allen (also niemandem), aber mit der Schuld bestimmter Leute – vielleicht deines Vaters, der seltsam wenig über diese Zeiten erzählt? Diese Abrechnung mit der Elterngeneration war eines der Motive der Jugendrevolte von 1968. Aber wie soll man als Sohn damit leben? Der Verbrecher ist ein Verbrecher, aber der Vater ist doch der Vater. Der Historiker Götz Aly behauptet in seinem provokanten Buch „Unser Kampf ’68“, dass zu dieser Rebellion der Wunsch gehörte, demokratische Strukturen zu stürzen und eine brutale Revolution durchzuführen. Eine Gewalt, die zum Teil auch die Taten der abgelehnten Eltern nachahmen sollte. Auch wir haben ein Ziel, auch wir kämpfen für etwas! Statt Hakenkreuz – ein T-Shirt mit Mao. Aly schreibt über sich und seine Freunde, er soll es gut wissen.
Soweit die Politik. Von der anderen Seite gab es das normale Leben. Verbrannte Städte, Vertreibung aus dem Osten. Viele Kinder ohne Väter – vielleicht sind sie gefallen oder bleiben in sowjetischer Gefangenschaft? Frauen, die im Osten oft vergewaltigt wurden, und im Westen sich für ein paar Strümpfe oder eine Packung Camel verkauften. Wir Polen, die selber von den Deutschen so viel gelitten haben, neigen dazu, dies, sowie die Teppichangriffe auf deutsche Städte, mit einem „sie haben es doch verdient” abzuhaken. Ich wünsche aber niemandem, in einem Feuersturm zu verbrennen. Aber die Deutschen mussten etwas mit diesen Erfahrungen machen. Auch war dieses Leiden ein Tabu-Thema, denn sich über die Besatzung zu beschweren, konnte wie eine Sehnsucht nach den alten Nazi-Zeiten gesehen werden. Also am besten war es, es unter den Teppich zu kehren und in die Zukunft zu schauen. Dann kam der Marshall-Plan, volle Läden mit strahlenden Schaufenstern, Rock-and-Roll und die erste Volkswagen-Reise nach Italien. Pizza und die Sonne des Südens. Was für eine Erleichterung nach dem Marschieren im Gleichschritt in der Hitlerjugend, der Niederlage (Befreiung?) und der Trümmerräumung. Komödien und lustige Schlager im Fernsehen. Das Gefühl des Nationalstolzes kam erst 1954, als die westdeutsche Mannschaft in Bern die ungarische Unschlagbare Elf besiegte. Es gab dann Freude im Westen und Osten – Fußballemotionen kann keine Diktatur unterdrücken. Bald darauf kehrten die Väter aus der sowjetischen Gefangenschaft zurück. Die meisten Mütter und Kinder, die sie zu treffen hofften, kehrten aber alleine wieder nach Hause zurück.
Frank Biess präsentiert die Geschichte Deutschlands als die Reihe der Angstzustände. Zuerst Angst vor Rache – meist vor Juden. Aber in Deutschland gab es auch 8 Millionen Displaced Persons (DPs) – Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Dazu die Angst vor den Besatzungsbehörden. Bei den Russen war sie berechtigt, aber auch in anderen Zonen nutzten die Besatzer ihre Überlegenheit aus. Solche Informationen wurden von der Zensur blockiert, aber durch Gerüchte verstärkt.
Es wurde befürchtet, dass sie „mit uns machen, was wir mit ihnen gemacht haben”, also die Wirtschaft zerstören und uns aushungern. Als aus den Westzonen die Bundesrepublik entstand und in die NATO eingegliedert wurde, gab es Angst vor einem neuen Krieg und der Atombombe.
Das Gebiet beider deutscher Staaten wäre ein idealer Kriegsschauplatz – die Fulda-Lücke als Startpunkt. Auf der einen Seite der öffentlichen Meinung gab es das harte „besser tot als rot“, auf der anderen die Angst vor der Rolle des Kanonenfutters im Interesse der anderen und vor einer Atomwüste nach dem Krieg. Die Blockade Berlins und die amerikanische Luftbrücke 1948–49 waren eine scharfe Ost-West-Auseinandersetzung. Später kam die Krise nach dem Bau der Berliner Mauer und Kennedys berühmte Worte „Ich bin ein Berliner“. Weiter die verspätete Abrechnung mit den Kriegsverbrechen und eine widerwillige Rückkehr in die verdrängte Vergangenheit. Folglich die Jugendrevolte gegen ihre Eltern und ihren Staat, der dem vor 1945 zu ähnlich war. Die Dekorationen waren demokratisch, aber es blieben die gleichen Leute. Sogar Heinrich Lübke, der Bundespräsident, wurde entpuppt als der Mann mit zweifelhafter Vergangenheit. In Peenemünde, wo die V1 und V2 Raketen gebaut wurden, benutzte er die Häftlinge als Arbeitssklaven und entwarf die Pläne der Lageranlagen. Als KZ-Baumeister angegriffen, musste er unrühmlich zurücktreten. Und aus der Jugendrevolte wurde eine Terrorbewegung: Rote-Armee-Fraktion (RAF), die Baader-Meinhof-Gruppe und ihre Nachfolger. Kampfausbildung in Palästina, Unterstützung seitens UdSSR und der DDR. Schließlich der Selbstmord (?) der Kämpfer im Gefängnis. Die linken Eliten sympathisierten mit den Revolutionären, aber der Staat war wirklich bedroht, also musste er heftig reagieren, was wiederum zum Polizeistaat führen konnte. Gewalt und Gegengewalt.
Damit nicht genug, tauchte das Thema Ökologie auf: der Club of Rome-Bericht „Grenzen des Wachstums“, saurer Regen und Waldsterben, Überbevölkerung. globale Abkühlung (sic!), die Ölkrise 1973. Und die Kombination aus Angst vor Atomkrieg und Atomenergie, insbesondere wegen der Probleme mit der Ablage der Abfälle. Grüne Aktivisten blockierten Transporte von radioaktivem Material, was zu einem Unfall führen konnte. Nach der Stationierung mobiler SS-20-Mittelstreckenraketen durch den Warschauer Pakt antwortete die NATO mit folgendem Doppelbeschluss: Aufstellung der Pershing-II-Raketen und Verhandlungsangebot. NATO-Aufrüstung (und nur sie) stieß auf heftige Proteste, diesmal lautete die Parole „besser rot als tot“. Deutschland wurde zunehmend antiamerikanisch.
German Angst – dieser Begriff taucht im psychologischen und soziologischen Diskurs auf. Es ist eine übertriebene Tendenz, nach besorgniserregenden Themen zu suchen. Wovor kann man noch Angst haben? Nennen wir folgende Themen: die unklare Rolle in Europa des immer stärkeren Deutschlands, die Eurokrise, der Zusammenbruch des Bankensystems, Ausländer, Islamisten, Rechtspopulisten und die AfD. Die Populisten sind wieder besorgt über Migranten, und der Autor über die von Populisten geschürten Ängste. In der Angst vor der Islamisierung sieht er einen neuen Antisemitismus. Na gut.
Anders sieht das Hans-Joachim Maaz. Als Psychotherapeut erklärt er viele Verhaltensweisen mit Kindheitstraumata, kurz gesagt: mit der Dominanz oder mit der Abwesenheit der Mutter oder des Vaters. Er stammt aus Halle in der DDR und arbeitete in einer evangelischen psychosomatischen Klinik. Er glaubt, dass die „Ossis“ empfindlicher auf Lügen und Manipulationen reagieren. Sie mussten auch für die Freiheit viel mehr riskieren. Er behauptet, die Probleme, von denen die Rechten sprechen, seien nicht erfunden. Im Gegenteil, der Mainstream, der pauschal alle Zweifel an der Richtigkeit der Parteilinie verwirft, schafft und stärkt diesen rechten Flügel, ohne selber den Andersdenkenden eine Alternative zu bieten. Weiter geht er auf typische Themen wie Migration ein und betont, dass viele scheinbar humanitäre Aktionen durch eigenen Narzissmus motiviert sind. Es braucht keinen Mut, um Antisemitismus, Islamophobie, Faschismus und den Klimawandel zu bekämpfen. Wenn er Greta Thunbergs Tirade bei den Vereinten Nationen sieht, würde er am liebsten das arme Mädchen in seine Arme nehmen und sie von ihren Eltern, den Medien, Politikern, dem Papst und den Massen psychisch labiler Kinder wegzerren. Und er wünscht sich, dass sie nicht mit dem Nobelpreis erdrückt wird. Als Psychotherapeut ruft er dazu auf, sich selbst und die eigene Würde zu finden. Von dieser Position aus sollte man zum Dialog übergehen, wo das Hören zum Zuhören führt und man akzeptiert, dass der Gesprächspartner zumindest teilweise recht haben kann. Diese Einstellung fehlt sehr, nicht nur bei den Deutschen.
Diese Bemerkungen erinnern uns daran, dass wir in unseren Überlegungen ein ganzes Land vergessen haben – die DDR, den zweiten deutschen Staat. Während im Westen die (erzwungene) Demokratisierung stattfand, vom Marshallplan unterstützt, verfiel der Osten in eine weitere Diktatur. Die Sowjetunion saugte wirtschaftlich alles aus, was sie konnte. Die Sowjets verwalteten das Gebiet zunächst als Besatzungszone, nach der Gründung der DDR 1949 übergaben sie nach und nach den Deutschen die Macht – auch an das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi. Der Terror nahm zu, das Denunziantentum florierte. Die Idealisten, die mit einem neuen und anderen Deutschland rechneten, verloren die Hoffnung. Bei gleichzeitig schlechter finanzieller Lage kam es am 17. Juni 1953 zu einem Aufstand, der von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde. In Deutschland war es ein Leichtes, die Aufständischen als Faschisten zu bezeichnen. Als die Regierung ankündigte, das Vertrauen in die Nation verloren zu haben, schlug der kommunistische Dramatiker Bertolt Brecht der Regierung vor, die Nation aufzulösen und eine neue zu wählen. Als Folge dieser Rebellion wurde die Schraube in der Wirtschaft gelockert, und die UdSSR trat feierlich von weiteren Reparationen zurück, für sich und auch für Polen, das inzwischen fast nichts erhalten hat. Ein wichtiger Wendepunkt war der Mauerbau 1961 und vor allem der Schießbefehl. Das System bröckelte jedoch langsam. Unter dem Schutz der Kirche gab es Friedensgebete, die sich in die Märsche unter dem Motto „Wir sind das Volk“ verwandelt haben. Schließlich, am 9. November 1989, wurde die Berliner Mauer geöffnet und ein Jahr später hörte die DDR auf zu existieren und gliederte sich in die Bundesrepublik ein.
Und hier sollten wir die Geschichte mit einem Happy End abschließen. Aber anstatt einer Vereinigung gab es einen Anschluss. Die Wirtschaft brach zusammen, das Land entvölkerte sich. Alles wurde von den Ankömmlingen aus dem Westen entschieden. Das mag gut sein, wenn man bedenkt, dass der Osten eine weitere Diktatur zu überwinden hatte. Aber wahrscheinlich war alles zu gründlich aufgeräumt worden, und die Ossis empfanden die Geringschätzung seitens der Wessis. Alles, was sie taten, wurde als wertlos beurteilt. Wichtiger als der literarische Wert ihrer Romane war, wer wen dabei denunzierte. Gegenseitige Anschuldigungen, Geheimakten. Was tun mit der auch im Westen hoch angesehenen Christa Wolf, die 1960 eine Episode mit der Stasi hatte, aber selbst 25 Jahre lang überwacht wurde? Sie wurde als Regimeschriftstellerin auch vom deutschen „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki angegriffen, der selber als polnischer Bürger im kommunistischen Sicherheitsdienst früher tätig war. Andererseits wurde der Dienst in der Wehrmacht und der SS aufgewertet. Den Veteranen wurden Renten zugesprochen. Deutsche Renten beziehen übrigens auch ausländische Angehörige der Waffen-SS, z.B. in Belgien. Viele Gesetze mussten angeglichen werden. Und so wurde Homosexualität (ab 1957 in der DDR erlaubt) wieder strafbar – bis 1994, obwohl dies im Osten nicht durchgesetzt wurde. Kommen wir zu den letzten Jahren. Als der Widerstand gegen den erzwungenen Zustrom von Einwanderern im Osten wuchs und die Anti-Islamisierungs-Organisation PEGIDA gegründet wurde, haben die dominierenden Medien alles in einen braunen Sack geworfen. Das neue Feindbild: unterentwickelte Ossis mit der nicht verarbeiteten Erfahrung zweier Diktaturen – alles klar und einfach.
Als 2018 in Chemnitz ein Deutscher von einem syrischen Messersteher getötet wurde, kam es zu einer Demonstration gegen Ausländer. Die Behörden in Berlin sprachen über die Jagd auf Ausländer, der sächsische Ministerpräsident behauptete, nichts Derartiges sei geschehen. In einem Schweigemarsch wurden Porträts von Opfern ähnlicher Angriffe getragen, um ihnen ein Gesicht und einen Namen zu geben. Der Marsch ist zu Krawallen verkommen. Auch hier sollte der rechte Flügel, die AfD und Neonazis eine größere Bedrohung darstellen. Die Frau Minister kam aus der Hauptstadt, legte pro forma Blumen, traf sich aber sofort mit Demokratie- und Toleranzaktivisten zusammen, um zu zeigen, dass „Chemnitz und Sachsen mehr sind als ein brauner Mob”. Eine besondere Art, Mitgefühl zu zeigen.
Unser Liebling, der Spiegel, hat das Cover mit dem Wort „Sachsen“ in der Frakturschrift versehen, was als deutliche Anspielung auf Nazi-Zeit gelten sollte. Ist es ein Verbrechen, nach einem Mord Bedauern oder gar Wut auszudrücken? German lives don’t matter? Dieses Verhalten drängt die Menschen in die Hände der Rechten, auch der extremen.
Andersdenkende werden aus dem Mainstream in die rechte / braune Ecke gedrängt. Diese Menschen werden ausgeschlossen, vorverurteilt und deshalb nicht mehr gehört. Trotzdem sind die Bücher von Thilo Sarrazin über die islamische Bedrohung Bestseller. Henryk Broder und Roland Tichy haben ihr Publikum. Politisch driften sie jedoch in Richtung AfD ab. Und betonen wir – in Deutschland klingt das Wort „Alternative” nach Ketzerei, das System hat sich doch bewährt, die Suche nach Alternativen ist schädlich. Interessanterweise erinnert dies an Konrad Adenaurs Slogan von 1957: Keine Experimente. In beiden Fällen liegt dies an der Befürchtung, dass der deutsche Zug auf wackeligen Gleisen fährt, und es besser ist, nichts zu versuchen. Was die AfD angeht, muss man allerdings mit Sympathie aufpassen. Einerseits ist es nur in diesen Kreisen möglich, offen beispielsweise über das Problem der Migration zu sprechen, aber bereits eine (sonst sinnvolle, sogar notwendige) Diskussion über Identität kann leicht zu einer Verherrlichung der Vergangenheit führen. Die Notwendigkeit der Akzeptanz der Väter, Großeltern und Urgroßeltern ist psychologisch verständlich, aber wir Polen haben keine zärtlichen Gefühle zu diesen Großeltern. Diese zweifelhafte Nostalgie sah ich in den Versandkatalogen – kaum versteckte Nazi Memorabilia: das heroische Afrikakorps, unsere Panzer bei Kursk und ähnliches. Dazu das Leiden der Deutschen: Luftangriffe auf Städte und Vertreibung. Dies ist offen gesagt, der Rest wird angedeutet. Wohlgemerkt: auf vielen Fernsehkanälen findet man jede Menge Dokus über Hitler, Eva Braun und geniale Konstrukteure der Wunderwaffen. Alles kritisch, es versteht sich von selbst.
Damit es nicht so düster ist, zitieren wir einige positive Meinungen. Edgar Wolfrum präsentiert Deutschlands Geschichte seit der Wiedervereinigung als eine Erfolgsgeschichte. Deutschland ist in die erste Weltliga aufgestiegen, ist ein Musterschüler der Demokratie, und wenn ein Hegemon, dann ein wohlwollender. Jan Fleischhauer im Spiegel ging noch weiter: er definierte Deutschland als die moralische Supermacht, deren Aufgabe es ist, sich dem Faschismus zu stellen, auch dem damaligen Führer Donald Trump im Weißen Haus. Wenn jemand bei dieser Mission Deutschland stört, so sind es die illiberalen Regime in Osteuropa. Als Deutschland während der Flüchtlingskrise 2015 ein Vorbild an Humanität war, zeigten sich diese Länder unsolidarisch, obwohl sie bereitwillig Geld von der EU (also Deutschland) entgegennahmen – so Fleischhauer. Der Feind ist auch Populismus und Nationalismus, die Pflege der nationalen Besonderheiten. Deutschland selbst habe keine führende nationale Kultur, denn was könnte es sein – brennende Synagogen? Eine glänzende Zukunft soll ein vereintes Europa bieten, dessen Ziel es ist, autoritäre Regime zu überwinden und zum Sieg der Freiheit zu führen.
Auch der Brite John Kampfner glaubt, dass die Deutschen vieles besser machen als die anderen. Die Wiedervereinigung, über die die Deutschen meckern, war doch ein Erfolg. Eine ruhige Behandlung der Epidemie, ohne Angeberei, war erfolgreich. Er hält auch die Führung während der Migrationskrise für vorbildlich und moralisch richtig. Er schließt sich der These an, dass Deutschland eine Bastion der Stabilität und des Anstands sei, insbesondere im Gegensatz zum Großbritannien und Amerika. Gerade im Vergleich zu Donald Trumps chaotischem Verhalten war Angela Merkels Ruhe, sogar Kälte ein Vorteil. Langfristig betonen wir die solide deutsche Industrie und den sozialen Frieden, der auf Konsens über die soziale Marktwirtschaft basiert. Diese Konzentrierung auf das Konkrete hat etwas damit zu tun, dass Deutschland keine Stütze in seiner Vergangenheit findet. Es gibt dort keine Anregungen zum Jubel und Hochgefühl. Jubiläen von Philosophen und Dichtern werden gefeiert, aber der 150. Jahrestag der ersten Wiedervereinigung 1871 nach dem Krieg gegen Frankreich ist für die Deutschen kein Thema. Vielleicht ist es deshalb den anderen einfacher, sie an diesem Tag zu loben und beglückwünschen.
Ist es also gut oder schlecht? Deutschlands Zukunft ist Europa, aber in welcher Rolle? Gibt Europa eine bessere Durchsetzungskraft der deutschen Politik unter einem universalistischen Namen getarnt oder ist es ein restriktives Korsett? Deutschland hätte gern für seine Industrie eine Partnerschaft mit Russland und China, mit kleineren Staaten als Unterlieferanten. Und Frankreich? Es hat auch Ambitionen auf eine europäische Führung, verfügt über Atomwaffen und einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Deutschland würde diese Ressourcen gerne „europäisieren“, das heißt de facto übernehmen. Gemäß der Methode des Deng Xiaopings täuscht es vorerst kleine Ambitionen vor. Allerdings würde ich nicht darauf wetten, dass es immer so sein wird.
In Bezug auf die Haltung gegenüber den kleineren Partnern hatten wir kürzlich die Gelegenheit, die wahren Ansichten von Katarina Barley, der deutschen Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, einzusehen. In der Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit (nur in Polen und Ungarn, selbstverständlich), hat sie vorgeschlagen, beide Länder „finanziell aushungern“, bis sie einlenken. Es weckt Erinnerungen an die Nazi-Zeit, als Deutschland wirklich die eroberten Länder aushungerte. Insbesondere betrifft es die Sklavenarbeiter, von welchen nur aus Polen Millionen nach Deutschland verschleppt wurden. Schwache Arbeitsleistung, weniger zu essen, noch schwächere Arbeit, Hunger, Tod – alles geplant und berechnet. Noch schlimmer als dieser Lapsus war das, dass weder sie noch andere im Aushungern, auch wenn nur finanziell, der vermeintlich gleichberechtigten Mitgliedstaaten etwas Unangemessenes sahen. Es war auch für sie selbstverständlich, Erpressung einzusetzen, um politische Veränderungen zu erzwingen. Dieser Dominationsdrang scheint – aus der Perspektive der schwächeren Länder gesehen – in der deutschen Politik allgegenwärtig, von links nach rechts.
Und damit kommen wir zurück zum Ausgangspunkt – zur deutschen Weltpolitik.
.Lassen Sie uns mit einem kulturellen Akzent beenden. Ein Beispiel für das Ringen mit der Vergangenheit ist das Lied „Deutschland” von Rammstein. Starke Rockmusik, das Video zeigt die Geschichte des Hermann des Cheruskers, des Bezwingers der römischen Legionen, bis hin zum Erhängen der jüdischen Häftlinge. Alles ist hier gewaltig: mächtig und voll Heftigkeit. Flammen, Blut. Düstere, wagnerianische Stimmung. Man kann sehen, wie schwer es für diese Leute ist, Frieden zu finden. Da brodelt etwas unter der Oberfläche, viel ist unterdrückt und verschwiegen. Wie in einem mit einem schweren Deckel zugemachten Kessel, in dem sich Druck aufbaut.
Jan Śliwa
Literaturverzeichnis: Friedrich von Bernhardi “Deutschland und der nächste Krieg”, 1912; Saul Padover “Psychologist in Germany”, 1946; Jörg Friedrich “Die kalte Amnestie: NS-Täter in der Bundesrepublik”, 1994; Götz Aly “Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück”, 2008; Florian Huber “Kind, versprich mir, dass du dich erschießt: Der Untergang der kleinen Leute 1945”, 2015; Frank Biess “Republik der Angst: Eine andere Geschichte der Bundesrepublik”, 2019; Hans-Joachim Maaz “Das gespaltene Land: Ein Psychogramm”, 2020; Ilko-Sacha Kowalczuk “Stasi konkret: Überwachung und Repression in der DDR”, 2013; Ilko-Sacha Kowalczuk “Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde”, 2019; Matthias Krauß “Die große Freiheit ist es nicht geworden: Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat”, 2019; Edgar Wolfrum “Der Aufsteiger: Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute”,2020; John Kampfner “Why the Germans do it better: Notes from a grown-up country”, 2020