Stop Doing This! Warum richtige Krisenkommunikation und gute Notfallvorsorge wichtig sind
22 Juli 2016 Eine chaotische Nacht in München. Doch das Chaos im Netz ist mit nichts zu vergleichen. Meldungen vermischt mit Falschmeldungen: Drei Täter sollen in einem Einkaufszentrum um sich geschossen haben, sechs Opfer zählt jemand, vielleicht sind es mehr. ISIS, Terror und Jahrestag des Breivik-Attentats – die Spekulationen überschlagen sich. Es werden Bilder, Videoaufnahmen und Aufzeichnungen im Internet verbreitet, bis die Polizei bittet, dies zu unterlassen. Zuerst in zwei, dann in drei Sprachen: Deutsch, Englisch und Französisch. Aus Respekt für die Familien der Opfer: STOP DOING THIS! Denn es seien auch Bilder der Opfer im Netz aufgetaucht, obwohl die Polizei explizit darum bittet, das Bild- und Videomaterial ihr nur über das speziell dafür vorgesehene Upload-Portal der Polizei Bayern zu überlassen.[1] Um die Arbeit der Polizei nicht zu behindern, die noch in der Nacht die Situation in den Griff bekommen und um drei Uhr morgens eine Pressekonferenz geben wird: Der Täter sei gefasst bzw. tot aufgefunden, die Busse und Bahnen fahren wieder, die Menschen können ihre Wohnungen wieder verlassen.
Neben den Prognosen und Drohungen, der Terror würde jetzt auch nach Berlin kommen und von dort sei es nur ein kleiner Sprung bis nach Warschau oder Krakau, taucht auch eine kleine Nebenfrage auf: Wie viele Supermärkte in Polen hätten Prozeduren für Notfälle wie diesem?
Ob die deutschen Supermärkte dazu verpflichtet sind, Notfallpläne zu verfassen und Notfallübungen durchzuführen, die über die üblichen Brandschutzfreigaben hinausgehen, sei dahingestellt. Dies ist in Deutschland den Betreibern kritischer Infrastrukturen vorbehalten. Auch in Hinblick auf ihre IT-Systeme und -Infrastrukturen übrigens, spätestens seit der Veröffentlichung des IT-Sicherheitsgesetzes (ITSiG). Neben Banken, Telekommunikation, Wasserversorgung etc. gehört tatsächlich auch die Lebensmittelindustrie zu den kritischen Infrastrukturen, die besonderen Auflagen und Meldepflichten bezüglich Sicherheitsvorfällen, Notfällen oder Krisen unterliegen. Supermärkte eher nicht.
.Was einem deutschen Besucher eines polnischen Supermarktes oder einer Mall sofort auffällt, sind die Sicherheitskräfte. Die Tradition, den Schutz der Geschäfte privaten Wachunternehmen zu übertragen, ist in Polen der Status quo, in Deutschland dagegen wenig verbreitet ‒ wenn man von dem zunehmenden Bedarf an Schutzkräften absieht, die aktuell die Unterbringungen der Flüchtlinge und Asylbewerber vor den Angriffen durch die deutschen Bürger schützt, absieht. Im Land Sachsen wurden eigens dafür Wachpolizisten mit verkürzter Grundausbildung von drei Monaten (normale Dauer: 2,5 Jahre) eingeführt.[2]
Die Präsenz der Wachmänner in einem Supermarkt hat nicht nur detektive und reaktive Funktion (sie greifen in Fällen wie Diebstahl etc. durch), sondern auch eine präventive. Ihre Präsenz soll potenzielle Bösewichte abschrecken, noch bevor diese zu Taten greifen. Auch wenn es an Notfallplänen mangeln sollte – für die Reaktion und Detektion haben polnische Supermärkte keine schlechten Voraussetzungen.
Und auch, wenn die Supermärkte in Polen (noch) keine Notfallpläne haben, so scheint es wenigstens genug Menschen zu geben, die gute Notfallpläne schreiben, Notfallstrategien entwickeln und Notfallübungen konzipieren und durchführen können. Das bezeugt ein Zuwachs an universitären Angeboten zur inneren, nationalen und internationalen Sicherheit, wie etwa diese: innere Sicherheit an der Sportakademie (AWF) in Katowice, an der Hochschule WSZOP oder als Vertiefungsgebiet im Studiengang Verwaltung als der Schlesischen Universität. Exzellente Absolventen in (online und offline) Sicherheit verlassen Jahr für Jahr die Alma Mater, neugierig in Bezug auf neue Aufgaben und Herausforderungen. Gute Notfallvorsorge – ob im Ministerium, in einer Bankfiliale oder Supermarkt – hängt nämlich im Wesentlichen von einem qualifizierten Personal ab. Und dieses ist offenbar vorhanden. Für alle, die etwas für ihre Notfallpläne unternehmen wollen, heißt es nun: Zugriff!
.Natürlich unterscheidet sich die Notfallvorsorge in Unternehmen oder Behörden mit stabiler Belegschaft signifikant vom Schutzbedarf einer Großveranstaltung oder eines Supermarktes, wo sich für den Fall eines Notfalls nicht einfach mit den zufällig durch die Anlagen schlendernden Besuchern und Käufern eine Übung durchführen lässt. Anders verhält sich dies bei Banken, wo beispielsweise die Regulierungsbehörde, die Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin), in den Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) Notfallübungen vorschreibt. Dabei bleibt es jedoch nicht – die Ordnungsmäßigkeit und Wirksamkeit der internen Notfallsysteme muss durch die interne Revision in Prüfungen bestätigt werden. Geschieht das nicht, behält sich die Aufsichtsbehörde vor, eigens beauftragte Prüfer zu der Bank zu schicken.
Doch ein Blick in die Prozeduren und Notfallpläne einer Bankfiliale verrät, dass die Handlungsgrundsätze allgemeingültig sind: Den Mitarbeitern einer Bank wird üblicherweise strikt verboten, den Helden zu spielen. Dies bedeutet im Klartext: Sie haben sich im Fall eines Überfalls ruhig zu verhalten, das Geld herauszugeben und anschließend die Polizei, interne Revision, das Krisenzentrum etc. zu alarmieren ‒ oft in der umgekehrten Reihenfolge (d. h. die Polizei zuletzt), das hängt von unternehmensinternen Vorgaben zur Krisenkommunikation ab.
.Das oberste Prinzip für den Notfall heißt nämlich: sich verstecken.
Soll das Verstecken – aus verschiedenen Gründen ‒ nicht möglich oder notwendig sein, steht an der zweiten Stelle: weglaufen.
Nur wenn die beiden ersten Optionen nicht infrage kommen, steht als die äußerste Option die Gewalt: sich verteidigen oder den Angreifer angreifen.
Diese einfache Handlungstriade in Prozeduren zu gießen, die mit der Aufbau- und Ablauforganisation eines Unternehmens oder einer Behörde kompatibel sind, ist Aufgabe der Experten. Und diese bilden die Universitäten in Polen seit Jahren aus ‒ anders als in den Zeiten des Kalten Krieges, in denen Zivilverteidigung noch ein Schulfach gewesen ist und jeder Bürger die Verhaltensregeln für den atomaren, chemischen, biologischen oder klassischen Angriff auswendig kannte, inklusive Rangbezeichnungen in der Armee und der Platzierung nahegelegener Schutzräume und -bunker.
Es geht keinesfalls darum, die bereits sowieso überforderten Schüler mit einem weiteren Fach zu belasten. Aber: Wie viele Menschen wissen, wo sich heute ‒ im Falle eines länger andauernden Strommausfalls beispielsweise – die nächste Wasserversorgungsquelle befindet? Oder eine funktionierende Toilette? Die im Wohnblock, Privathaus und Bürogebäude wird es nämlich ohne Strom nicht mehr tun.
.Kontemporäre Philosophen wie Slavoj žižek plädieren deswegen dafür, mehr Verantwortung zu übernehmen: „Man sollte […] lernen, wie man aus dem Schutzraum heraustreten kann, hinein in das gefährliche, unsichere Leben da draußen — und wie man dort eingreifen kann. Man sollte lernen, dass wir nicht in einer sicheren Welt leben. Sondern in einer Welt, in der diverse Heimsuchungen drohen, von Umweltkatastrophen und neuen Kriegen bis hin zur wachsenden gesellschaftlichen Gewalt.“[3] Passenderweise forscht auch der Psychologe Philip Zimbardo, der für das misslungene Gefängnisexperiment an der Stanford University aus dem Jahr 1971 verantwortlich war, in dem zufällig ausgewählte Studenten die Rollen von Wärtern oder Häftlingen übernahmen und die Wärter ihre Macht so weit missbrauchten, dass das Experiment nach bereits sechs Tagen abgebrochen werden musste, an der Entwicklung des „Heldenmuskels“, wie Kevin Dutton es in seinem Buch Psychopathen erklärt. „Dabei geht es darum, den Normalbürger darin zu bestärken, sich zu erheben und etwas zu bewirken, statt sich aus Angst zum Schweigen bringen zu lassen. Und das nicht nur im Fall physischer, sondern auch psychischer Konfrontationen, die, je nach Umständen, eine genauso große Herausforderung darstellen können.“[4]
Dies sollte sogar dabei helfen, Katastrophen wie etwa den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, der laut Zimbardo auf einer Konstellation von Faktoren des Gruppendenkens basierte ‒ hier: „falsche Annahmen, ein nicht hinterfragter Konsensus, kritiklos hingenommene Urteilsverzerrungen, die Illusion der Unverwundbarkeit“ ‒ zu verhindern.
.Wie es im 2. Brief an Timotheus heißt: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,7). Nicht die Angst, sondern die Vernunft soll unser Wegweiser sein. Besonders dann, wenn diese Vernunft dem Einsatzleiter ins Ohr flüstert, sich tot zu stellen, um im Notfall keinen Zugriffsbefehl zu geben, um keine Entscheidungen zu treffen, die seiner Karriere schädlich sein könnte. Spätestens dann ist jeder auf sich gestellt, und es ist besser, zu wissen, was im Notfall zu tun ist.
Aleksandra Sowa
Natalia Marszałek
[1] https://medienupload-portal01.polizei.bayern.de/. [2] Kaufmann, A.-F. (2016), „Plötzlich Polizist“. In: taz, 10.5.2016, S. 05. [3] Zizek, S. (2016), „Heirate dich selbst“, in: Philosophie Magazin Dez. 2015/Jan 2016, S. 34-39, S. 39. [4] Dutton, K. (2014), Psychopaten, Dtv-Verlag: München, S. 255.