Aleksandra SOWA, Natalia MARSZAŁEK: Don’t drink and twitter!

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Aleksandra SOWA

Leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst-​​Görtz-​​Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Sowa ist Autorin diverser Bücher und Fachpublikationen und begleitete u.a. als Mitglied der Internet Redaktion die Wahlkampftour des Bundeskanzlers a.D. Gerhard Schröder.

Ryc.: Fabien Clairefond

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Natalia MARSZAŁEK

Absolventin der Fachrichtung Innere Sicherheit mit Spezialgebiet System- und Informationssicherheit. Liest Fantasy. Liebt Hohe Tatra. Schreibt Prosa.

Es gibt Bücher, die wie Notfallpläne sind: Man liest sie nicht, man braucht sie nicht. Meint man. Doch dann passiert etwas Schlimmes, und man ist wirklich froh, dass es sie gibt 

.„Was nutzen die Gesetze uns, wenn gute Sitten fehlen?”, fragte ironisch der römische Satiriker und Dichter Horaz (65–8 v. Chr.). Nun haben wir uns einen Ort geschaffen, der von nur sehr wenigen Gesetzen beherrscht wird: das Internet. Dafür ist das Internet eine komplexe Struktur an alten und neuen steuernd wirkenden Organisationen, Einflussgruppen, Regierungen, Selbstverpflichtungen, Netiquetten etc., von denen es (selbst) reguliert und beherrscht wird. Wer die Vielfalt der Akteure und Handlungsfelder noch nicht erfasst hat, dem sei empfohlen, einen Blick in die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Internet Governance, Wer regiert das Internet, zu werfen. Dort wurde der Versuch unternommen, diese immer komplexere Struktur zu skizzieren.

„Zum ersten Mal seit der Industrierevolution befinden sich die Produktionsmittel in Händen von allen“, zitiert Eryk Mistewicz in Twitter [LINK] Professor Yochai Benkler von der Harvard University. Seine Euphorie ist typisch für die Anfangszeit des Internets: Es sollte die Demokratie demokratisieren, indem sich virtuell jeder mit jedem treffen, jeder von jedem lernen und alle selbst den Informationsfluss steuern konnten. „Wir müssen keinem Konzern mehr angehören, um Innovationen durchzuführen“, so Benkler, „Heute muss man keine Zeitung, keinen Radio- oder Fernsehsender besitzen, noch muss man einer politischen Partei beitreten, um in der Politik mitzuwirken.“ Das Internet hat Medienkonzerne, die den Informationsfluss kontrolliert haben, ihrer Macht beraubt und die Teilnahme an der Demokratie dezentralisiert (S. 32).

Die Aufbruchszeiten sind vorbei. Das Internet scheint von neuen Machthabern beherrscht zu werden. Und es hat einige wesentliche Veränderungen durchgemacht. Auf der technischen Ebene betrifft eine von ihnen gewiss die Emigration der Informationen von den Desktopcomputern auf mobile Plattformen. Begonnen mit den Websites der Unternehmen und Regierungen über soziale Medien bis hin zu Chats und Maildiensten – für alles gibt es eine App.

Die andere große Veränderung betrifft die Kultur im Netz. Oder, besser gesagt: das Verschwinden dieser. „Wir brauchen eine vernünftige Netzkultur“, appellierte Lamya Kaddor aus Köln, Islamwissenschaftlerin, Publizistin, Trägerin des „Politisches Buch“-Preises – und zuletzt auch Opfer von Hatespeach und Morddrohungen, die ihr über ihren Facebook-Account übermittelt werden (und – trotz Polizeischutz und Anzeige gegen den bekannten und identifizierten Übeltäter – weiterhin werden).

Wobei wir wieder bei Horaz und den guten Sitten wären.

.In Newsgroups, den Diskussionsforen des frühen Internets, konnte jeder mitmachen, sobald er sich auf die sogenannte Netiquette verpflichtet hat. Diese Verpflichtung war freiwillig. Das Mitmachen bei den Newsgroups auch. Das Prinzip war einfach: Wer sich nicht an die Netiquette halten wollte, dem stand der Weg frei, die Newsgroups zu verlassen. Tat er es dennoch nicht und missachtete er die Netiquette weiter, gab es ein Problem. Für die Newsgroup.

Dem Störenfried wurden üblicherweise die Lese- und Schreibrechte zur Diskussionsliste entzogen, was technisch mit der Löschung seiner Adresse aus dem Verteiler umgesetzt wurde. Dem Ausschluss ging eine demokratische Abstimmung voraus, an der alle Mitglieder teilnehmen durften (und sollten). Nicht selten tauchte dieselbe Person kurze Zeit danach wieder auf, nur mit einer neuen E-Mail-Adresse, trat der Liste erneut bei und trieb ihr Unwesen weiter. Irgendwann stellten die Mitglieder erneut einen Antrag auf Ausschluss von der Liste wegen Nichteinhaltung der Netiquette, es wurde abgestimmt und der Delinquent aus dem Verteiler entfernt. Und das Spiel begann dann meist mit einer neuen E-Mail-Adresse von vorne.

Twitter – das sind die Newsgroups von heute. Jedenfalls könnte Twitter als würdiger Nachfolger der legendären Diskussionsforen gesehen werden, gleichwohl auch diese in bescheideneren Formen bis heute überlebt haben. Twitter kann all das, was Newsgroups konnten. Allerdings auf den telegrafischen Stil von 140 Zeichen je Nachricht beschränkt, dafür zuzüglich Bilder und Videos. Und noch etwas hat sich verändert – das kooperative Verhalten der Internetkonzerne vorausgesetzt: Die Ausschlussverfahren schienen zum ersten Mal wirklich effektiv zu sein.

Denn Störenfriede, Trolle, „Hejter“ – wie auch immer man heute die digitalen Bösewichte nennt – gibt es nicht erst seit Twitter, klärt Eryk Mistewicz in Twitter auf. Und räumt zugleich mit den Mythen auf, die sich rund um den Nachrichtendienst angesammelt haben. Denn den Trollen kann man auf Twitter vergleichbar leicht einen Riegel vorschieben, indem man entscheidet, wer einem folgen darf und wem man folgt. Aufdringliche oder beleidigende Nutzer können geblockt werden. Dann bekommt man eben gar keine Nachrichten von dessen Accounts mehr. Einzelne kommerzielle Inhalte können noch leichter abgeschaltet werden, sie müssen weder beleidigend noch unanständig sein, es reicht schon, wenn man die Inhalte für nicht relevant hält. My Twitter is my castle!, lautet ein guter Rat von Mistewicz. „Wenn ich nicht will, dass Personen, die mir nicht den geringsten Respekt zeigen, meine Nachrichten lesen, dann ist es mein gutes Recht. Und ich muss mich vor niemandem rechtfertigen“. (S. 40)

Wie das geht? Mistewicz erklärt ausführlich, wie man die Trolle loswerden kann. Aber auch, wie man sich selbst verhalten soll, um nicht versehentlich zu einem Troll zu werden – angenommen natürlich, man möchte es nicht absichtlich. „Bevor du selbst etwas schreibst, lies zuerst, was die anderen schreiben“, empfiehlt der Autor den Politikern. „Erzähle gute Geschichten“ anstatt nur deine neuen Fernsehauftritte zu posten. „Sei Vorbild für die kluge und verantwortungsvolle Nutzung neuer Medien“, rät er den Lehrern und abstrahiere nicht vom Wort „Entschuldigung“, falls sich eine Krise anbahnt. Poste nicht, wenn du schon etwas getrunken hast. Das kann dich nicht nur den Job kosten – auch die Chefs lesen Twitter. Und lies, lies, lies … Das gibt nicht nur einen besseren Überblick über die aktuellen Themen und das, was das Netz gerade bewegt. Im Netz, wie im Zitat von Professor Benkler, lernt jeder von jedem. Und das gilt heute immer noch.

.Klingt das alles nicht nach einem alten Tobak? Haben wir nicht das alles schon früher gewusst? Gerade in der narzisstischen digitalen Gesellschaft, in der jeder sowieso besser Bescheid weiß, überraschen solche Reaktionen auf Bücher wie Twitter nicht ernsthaft. Dennoch, es verhält sich mit dem Buch wie mit einem Notfallplan: Sein Nutzen entfaltet sich spätestens dann, wenn es wirklich ernst wird. Wenn man von lauter Trolle und ihrer Kommentare nicht mehr ruhig schlafen kann, wenn man von allen und jedem geblockt wird oder gar von der Polizei Besuch bekommt – entweder als Opfer von Drohungen oder weil sich jemand von uns bedroht fühlt. Notfallpläne liest man nicht, braucht man nicht. Man stellt sie pflichtbewusst im Regal ab, wo sie die Revision ab und zu in Augenschein nimmt. Denn ehrlich, im Zweifelsfall weiß man doch sowieso besser, was zu tun ist.

Dann kommt der Vorfall, und man ist froh, dass es sie gibt. Bücher wie Twitter von Eryk Mistewicz.

Aleksandra Sowa
Natalia Marszałek
„Twitter – sukces komunikacji w 140 znakach. Tajemnice narracji dla firm, instytucji i liderów opinii”, Eryk Mistewicz, Wyd.Helion [LINK].

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