Karol NAWROCKI: Die deutsche Verdrängung

Die deutsche Verdrängung

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Karol NAWROCKI

Leiter des Instituts für Nationales Gedenken.

Ryc. Fabien Clairefond

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Die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs lassen sich weder auf die Nationalsozialisten noch auf den Holocaust reduzieren. Ohne eine Annäherung in dieser Hinsicht ist eine aufrichtige deutsch-polnische Versöhnung kaum möglich.

Gutes Hakenkreuz, schlechtes Hakenkreuz

.„Auf dem Königsplatz in München weht die Hakenkreuzfahne“, gaben die deutschen Medien bekannt. Die Aufmerksamkeit heischende Überschrift sollte lediglich Aufsehen erregen. Aus dem Folgenden ging dann klar hervor, dass nichts Ungehöriges passiert war. Eine große nationalsozialistische Hakenkreuzfahne wurde im Zentrum der Stadt nur für die Zeit der Dreharbeiten zu dem Film München – Im Angesicht des Krieges (2021), einer historischen Superproduktion von Netflix mit Jeremy Irons in einer der Hauptrollen, aufgehängt. Den Künstlern lag es daran, die Realität vom Herbst 1938 möglichst getreu wiederzugeben, als in München die Staatschefs Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und Frankreichs über das Schicksal der Tschechoslowakei entschieden.

Das gleiche Ziel, eine getreue Rekonstruktion der authentischen historischen Umstände, setzten sich die Comicschaffenden aus unserem Institut in ihrem Comic u.d.T. Operacja „Dorsche“ (Operation Dorsche) zum Ziel. Er basiert auf einer der spektakulärsten Aktionen des polnischen Untergrundstaates im Zweiten Weltkrieg, bei der aus deutschen Lagern geflohenen alliierten Kriegsgefangenen geholfen wurde. Der Leser bekommt hier Hakenkreuzfahnen an öffentlichen Gebäuden in Posen oder Lodz zu sehen, weil das der dunklen Wirklichkeit der Besatzungszeit entsprach.

Mein Erstaunen war groß, als ich erfuhr, dass der Comic von zwei Grundschulleitungen im westlichen Deutschland beanstandet wurde. Auch ein anderer Comic unseres Instituts, Major Hubal (2021), rief allergische Reaktionen hervor: eine Geschichte über den berühmten Major Henryk Dobrzański, der im September 1939 weder die Waffen legte noch seine Uniform auszog, sondern beschloss, weiter gegen die Deutschen zu kämpfen. Dem Lehrer, einem Auslandspolen, der Veröffentlichungen des Instituts für Nationales Gedenken als Unterrichtsmaterial einsetzen wollte, wurde absurderweise zuerst vorgeworfen, er verbreite verbotene Symbole, und später, er verherrliche Brutalität. Hinter die Schulleitungen stellte sich die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) in Koblenz. Der Lehrer musste hören, dass die Comics „schreckliche Inhalte“ enthalten würden und nicht verbreitet werden dürften. Deshalb schickte er sie an den Verlag zurück.

Beide Comics wurden mit größter Sorgfalt vorbereitet – herangezogen wurden dabei jeweils ein Historiker und zwei Gutachter. Dass ihr Einsatz in deutschen Schulen blockiert wurde, entbehrt jeder sachlichen Begründung. Das riecht nach Zensur und man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, es handele sich mitnichten um Hakenkreuze oder „schreckliche Inhalte“. Eher um die Zulassung einer von der in Deutschland vorherrschenden Version abweichenden Erzählung über den Zweiten Weltkrieg.

Nationale Selbstzufriedenheit

.Die vorherrschende Erzählung über den Zweiten Weltkrieg lässt sich mit dem Satz zusammenfassen: Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Mehr als zwei Drittel unserer westlichen Nachbarn sind überzeugt, dass Deutschland seine nationalsozialistische Vergangenheit sehr gut aufgearbeitet habe und anderen Nationen als Vorbild dienen könne (einer Umfrage von „Die Zeit“ aus dem Jahr 2020 zufolge). Eine sehr bequeme Einstellung, die jedoch kaum mit der Wahrheit übereinstimmt.

Denn die Wahrheit sieht anders aus: Die Abrechnung mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges wurde von den Deutschen nicht allzu intensiv betrieben. Die Entnazifizierung der Nachkriegsjahre war dermaßen oberflächlich, dass es selbst in den 1960er Jahren in der bundesdeutschen Verwaltung von ehemaligen Nazis, gar von SS-Offizieren, nur noch so wimmelte. Unternehmen, die während der Hitler-Herrschaft von der Sklavenarbeit profitiert hatten, konnten in der Ära des „Wirtschaftswunders“ weiterhin ihre Vermögen mehren. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR landeten nur ausnahmsweise Kriegsverbrecher auf der Anklagebank. Es reicht zu erwähnen, dass lediglich zwei KZ-Kommandanten von deutschen Gerichten zu Tode verurteilt wurden: Paul Werner Hoppe aus Stutthof und Franz Stagel aus Sobibór/Treblinka. Unverhältnismäßig gering fiel auch die finanzielle Verantwortung Deutschlands für das gewaltige Unrecht und die Kriegszerstörungen aus. Über Kriegsreparationen für Polen will die jetzige Berliner Regierung nicht einmal sprechen. Sie beschränkt sich lieber auf Erklärungen von einer „moralischen Verantwortung“, die bei allen Jahrestagen gern wiederholt werden.

Um die moralische Verantwortung ist es aber auch nicht am besten bestellt. Deutlich mehr als die Hälfte der an der genannten Umfrage Beteiligten (58 Prozent) bestätigt die skandalöse Behauptung, Deutschland trage keine größere Verantwortung für den Nationalsozialismus, die Diktatur, für Kriege und Verbrechen als andere Länder. Kaum 3 Prozent bekennt sich dazu, in der eigenen Familie Anhänger des Nationalsozialismus gehabt zu haben. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass bei den gänzlich freien Reichstagswahlen 1932 die NSDAP über 37 Prozent der Stimmen erhielt. In den Jahren 1925–1945 traten dieser Partei insgesamt ca. 10 Mio. Menschen bei. Knapp doppelt so viele dienten in der Wehrmacht. Das rassistische Manifest Adolf Hitlers u.d.T. Mein Kampf erreichte bis 1944 eine Gesamtauflage von etwa 11 Mio. Exemplaren.

.Heute wachsen neue Generationen der Deutschen in Unkenntnis der Ausmaße der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs auf und überschätzen den innerdeutschen Widerstand gegen das braune Regime. Zurückzuführen ist das auf Unterlassungen im Bildungssystem, aber auch – weiter gefasst – auf eine kurzsichtige Geschichtspolitik Berlins, in der sich leere Gesten, Selbstzufriedenheit und eine künstliche Aufteilung in Deutsche und Nazis miteinander vermischen. Eine solche Einstellung erlaubt keinen tieferen Einblick in die eigene Schuld und keinen authentischen Dialog mit Polen. Von einem Verbündeten und einem angehenden Anführer des vereinten Europas müssen wir deutlich mehr verlangen.

Karol Nawrocki

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