Nicolas TENZER: Wie Propaganda von unserer kognitiven Dissonanz profitiert

Wie Propaganda von unserer kognitiven Dissonanz profitiert

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Nicolas TENZER

Französischer Beamter, Akademiker, Schriftsteller und Redakteur. Derzeit ist er Herausgeber der Zeitschrift Le Banquet und Gründungspräsident des Centre d'étude et de réflexion pour l'action politique (CERAP), eine Position, die er seit 1986 innehat. Er war Direktor des Aspen Institute 2010 bis 2015 und fungierte als dessen Schatzmeister und Präsident.

Ryc. Fabien Clairefond

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Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Analyse der Propaganda von Diktaturen besteht darin, dass sie sich nicht als ein Objekt mit streng abgegrenzten Rändern erfassen lässt. Propaganda hat viele Facetten, sowohl in Bezug auf die Ziele, die teils unmittelbar, teils längerfristig sind, als auch in Bezug auf die Mittel und die Ziele. Sie hat auch unterschiedliche Grade der Intensität und damit der Sichtbarkeit, und aufgrund eines Paradoxons, das ich schon oft betont habe, ist sanfte Propaganda oft gefürchteter, weil sie weniger wahrgenommen wird und invasiver ist. Schließlich darf man nie aus den Augen verlieren, dass ihre letztendliche Absicht darin besteht, die Regierungen dazu zu bringen, ihre Haltung zu ändern, indem sie sich gegenüber dem Handeln von Diktaturen willfährig, wenn nicht gar passiv verhalten. Letztendlich sind es die Regierenden der Länder, die das vorrangige Ziel der Propaganda sind.

Ziele, Mittel und Ziele: ein undurchsichtiges Geflecht

.Was die unmittelbaren Ziele angeht, so kann das Hauptziel der Propaganda darin bestehen, die Wahrnehmung von Diktaturen und insbesondere ihrer Verbrechen zu verändern – konkret, dass sie von der breiten Öffentlichkeit, den Meinungsführern und den Machthabern akzeptiert werden – und gleichzeitig in demokratischen Ländern Unruhe zu stiften, indem Öl ins Feuer gegossen wird. Dies ist der Fall, wenn sie feindseligen Forderungen einen besonderen Glanz verleiht, ganz besonders, wenn auch nicht ausschließlich, wenn sie von rechtsextremen Bewegungen getragen werden – von den Capitol Rebelists am 6. Januar 2021 in den USA über die migrantenfeindliche Pegida-Bewegung in Deutschland bis hin zu den Gelbwesten in Frankreich und den Bewegungen gegen Impfungen oder Gesundheitsmaßnahmen überall auf der Welt. Das bedeutet zwar nicht, dass Propaganda der Ursprung dieser Bewegungen ist, aber sie stellen eine willkommene Gelegenheit dar. Neben diesen beiden Zielen – ihre Handlungen akzeptabel zu machen und die Demokratien zu delegitimieren – hat Propaganda auch das Ziel, kritische Stimmen abzuschrecken und einzuschüchtern. Diese können mithilfe von Knebelverfahren belästigt werden, die besonders effektiv gegenüber Personen sind, die nicht über die Ressourcen verfügen, um sich dagegen zu wehren, aber auch mit mehr oder weniger eindringlichen Drohbotschaften.

Auch bei den Mitteln gibt es eine große Vielfalt. Man kann natürlich die offiziellen Organe diktatorischer Regime wie Russia Today oder Sputnik für Russland oder CGTN für die Volksrepublik China nennen, wobei zu beachten ist, dass ihre Wirksamkeit oft weniger über die auf diesen Kanälen gesehenen Fernsehsendungen als über ihre anderen Produkte wie den You Tube-Kanal erreicht wird – daher die richtige Entscheidung der deutschen Regulierungsbehörde, diesen in diesem Land zu verbieten. Hinzu kommen die Diskussionsgruppen auf insbesondere Facebook oder Telegram, in die sich auf unauffällige Weise Propagandisten einschleichen können. Es gibt auch zahlreiche „falsche Nasen“, d. h. Kanäle, Twitter- oder Facebook-Konten oder Websites, bei denen nicht direkt erkennbar ist, dass sie mit ausländischen Mächten in Verbindung stehen, und die harmlose Nachrichten (Wetter, Vermischtes, Sportereignisse) mit viel stärker orientierten Inhalten mischen können. Die Bestandsaufnahme ist noch unvollständig.

Vor allem darf man bei diesen Mitteln die „Rekrutierung“ von Lobbyisten, Beratern, Journalisten, Akademikern, Mitgliedern von Think Tanks oder politischen Persönlichkeiten nicht übersehen, die die Narrative der Diktaturen reproduzieren können. Einige können dies öffentlich tun, andere haben aber auch die Möglichkeit, diskret mit Mitgliedern der amtierenden Regierung zu kommunizieren. Diese Form der Korruption – die im Strafrecht nicht immer als solche bezeichnet wird, was genau das Problem ist – ist heute eines der wichtigsten Themen in vielen westlichen Demokratien. Hinzu kommt die direkte Finanzierung von Forschungsinstituten, Think Tanks und manchmal auch von Universitäten, denen es an Ressourcen mangelt. Die Mitglieder dieser Institutionen sehen sich daher, wenn nicht immer, dazu veranlasst, die Argumente der Diktaturen zu übernehmen, so doch zumindest dazu, von deren Untaten und Verbrechen abzulenken.

Und schließlich gibt es viele verschiedene Ziele für die Propaganda: Sie kann die breite Öffentlichkeit, Parlamentarier, Meinungsführer, Presseorgane, Nutzer sozialer Netzwerke, Universitäten, NGOs, politische Parteien und natürlich die Staatsoberhäupter der Länder, in denen sie eingesetzt wird, erreichen. Doch jedes Mal muss die Propaganda der Diktaturen, die über beträchtliche und ständig wachsende Mittel verfügt, ihre Handlungsweisen an die spezifischen Ziele anpassen, die sie für jede Kategorie verfolgt. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Die russische Propaganda hat sich rechtsextremer Parteien und Bewegungen in Europa und sogar in den USA stark bedient, um zu versuchen, ihre ideologischen Positionen zu stärken und der Demokratie einen Schlag zu versetzen. Da extremistische Parteien in manchen Ländern jedoch kaum eine Chance haben, an die Macht zu kommen, kann sie auch versuchen, gemäßigtere Parteien zu durchdringen, manchmal sogar mit Erfolg, was angesichts der Ziele, die sie sich letztlich gesetzt hat, manchmal effektiver ist. Wenn man sich also nur auf die extremen Parteien konzentriert, kann es passieren, dass man ihre beunruhigendste Realität nicht wahrnimmt. Man darf den Wald nicht vor lauter Bäumen nicht sehen. Hier kommt die kognitive Dissonanz ins Spiel.

Kognitive Dissonanz: ein fruchtbarer Boden.

.Das Konzept der kognitiven Dissonanz hat viele Verzweigungen. Wir wollen hier eine einfache Definition vorschlagen: Sie besteht darin, dass eine Person – meist unbeabsichtigt, manchmal aber auch absichtlich – zwei oder mehr Aussagen unterstützt, die einander widersprechen. Ihre logische Weiterführung führt zu einer Diskrepanz zwischen der mündlichen Äußerung einer Position und der darauf folgenden, in Bezug auf diese Position unlogischen Handlung. Propaganda fördert zwar nicht die kognitive Dissonanz seitens der Führung, kann sie aber ausnutzen und profitiert letztlich davon. In der Öffentlichkeit führt diese Dissonanz, gerade weil sie die Rationalität des politischen Diskurses, der einer bestimmten Logik gehorchen soll, durchbricht, dazu, dass ein Unverständnis für den Zustand der Welt entsteht. Sie schafft eine Orientierungslosigkeit und eine gemeinsame Basis, die man auch als Wahrheit bezeichnen kann, was auch eines der Ziele der Propaganda von Diktaturen darstellt.

Die Erscheinungsformen dieser kognitiven Dissonanz sind in der Außenpolitik vielfältig, aber manchmal verbindet sie auch Positionen, die in den Bereich der Innenpolitik fallen. Nehmen wir einige Fallbeispiele.

Der erste betrifft Aggressionen von diktatorischen Regimen – man sollte übrigens genau genommen „kriminell“ sagen. Die demokratischen Führer verurteilen sie einerseits, aber andererseits sind sie der Ansicht, dass man mit diesen Regimen verhandeln kann, um eventuell eine Einigung über andere Themen zu erzielen. Wie kann man aber gleichzeitig diese vielfältigen Aggressionen – insbesondere des russischen Regimes gegen Georgien, die Ukraine und Kasachstan – benennen und davon ausgehen, dass es eine Verständigungsbasis mit denjenigen geben kann, die sie initiiert haben? Das erweckt den Eindruck, dass man, nachdem man sie ernst genommen hat, so tut, als würde man sie letztlich entschuldigen.

Das zweite Fallbeispiel betrifft die Menschenrechte. Die demokratischen Führer verteidigen deren Prinzip mit Nachdruck, betonen erneut ihren universellen Wert und erklären, dass sie auf der Seite der Freiheitskämpfer stehen. Gleichzeitig zögern sie jedoch, diejenigen zu benennen, die sie in internationalen Foren verletzen – denken wir nur an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Volksrepublik China insbesondere in Xinjiang begangen hat, die grausame Unterdrückung in Hongkong oder die massiven Kriegsverbrechen, die sogar die des Islamischen Staates übertreffen, die das russische Regime in Syrien begangen hat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Anschluss an die Nürnberger Prozesse, bei denen einige Naziverbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, hat das Völkerrecht den Begriff der unverjährbaren Verbrechen definiert und Gerichte zu ihrer Verfolgung eingerichtet, zuletzt den Internationalen Strafgerichtshof, die jedoch offenbar zögern, die Machthaber, die diese Verbrechen veranlasst haben, anzuklagen. Dadurch wird das internationale Recht geschwächt und an den Rand gedrängt und läuft Gefahr, ungültig zu werden oder nur sehr eingeschränkt anwendbar zu sein. Damit wird sogar eine der Grundlagen der internationalen Ordnung untergraben, was auch eines der Hauptziele revisionistischer Regime ist. Dasselbe gilt natürlich auch für das Konzept der Schutzverantwortung, das weder in Syrien, noch in der Ukraine, Georgien, Weißrussland oder erst kürzlich in Kasachstan angewandt wurde. Schweigen ist auch eine Ausdrucksform der kognitiven Dissonanz.

Ein drittes Beispiel, das wahrscheinlich komplexer ist, betrifft das Unverständnis für die heutigen diktatorischen Regime, insbesondere für das russische. Die führenden Politiker der Welt sehen sehr wohl – oder sollen sehen -, dass das Hauptziel dieses Regimes nur indirekt oder teilweise eines der Ziele ist, die in der klassischen Geopolitik definiert wurden. Es geht nicht nur um Kontrolle und Annexion, sondern darum, die Grundlagen und Prinzipien, die die internationale Szene strukturieren sollen, radikal in Frage zu stellen und die politischen Werte der Freiheit und der offenen Gesellschaft durch die systematische Zerstörung des Begriffs der Ordnung selbst zu ersetzen. Sie geben vor, dass die Ziele der russischen – und zunehmend auch der chinesischen – Diktatur nichts mehr mit den Zielen der Mächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu tun haben. Wie um sich selbst zu beruhigen, argumentieren sie auf der Grundlage alter Schemata, die sie daran hindern, die Natur der Handlungen dieser Regime zu erkennen, obwohl diese Regime bereits in eine Form der geostrategischen Postmoderne übergegangen sind, die Ideologie, militärische Aggression und gezielte Angriffe auf die Grundfesten der Demokratien miteinander verbindet. Die kognitive Dissonanz besteht also darin: Einerseits gibt es so etwas wie eine Selbstverständlichkeit, dass die Offensiven dieser Regime in ihrer Radikalität absolut neu sind und klar erkennbar sind; andererseits zieht man es aus Bequemlichkeit vor, sie auf bekannte Schemata zurückzuführen.

Ein vierter Fall ist die Entkoppelung der verschiedenen Dimensionen des russischen Regimes, als ob man seinen Revisionismus in internationalen Angelegenheiten und seine ideologische Offensive voneinander trennen könnte. So kommt es vor, dass bestimmte Regierungen einerseits klare Worte über die zahlreichen Aggressionen des Landes verlieren und zu Recht eine Haltung der absoluten Härte vertreten, andererseits aber seinen ideologischen Diskurs kopieren, insbesondere im Bereich der „Familienwerte“, und sich auf seinen Kampf gegen LGBT-Personen und Flüchtlinge stürzen oder sogar die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien untergraben. Die genauesten und klarsten Positionen zu den Sicherheitsbedrohungen des russischen Regimes könnten durch diese Form der ideologischen Ähnlichkeit relativ illegitim werden.

Ein fünftes Beispiel schließlich beruht auf einer internen Dissonanz in geostrategischen Fragen. So hat man gesehen, dass einige Regime im Nahen Osten, die sich fest dazu verpflichtet haben, den Expansionismus des Iran durch seine verschiedenen Bewegungen zu bekämpfen, eine beschwichtigende Haltung gegenüber Russland einnehmen und sich sogar mit Assad, dem schlimmsten Verbrecher gegen die Menschlichkeit des 21. Jahrhunderts, versöhnen, obwohl sie die sichersten Vektoren für die Kontrolle Teherans über mehrere Regionen in diesem Gebiet sind. Die gleiche Haltung findet sich mutatis mutandis, wenn Staatsoberhäupter, die sehr gut über die russischen Bedrohungen informiert sind, politische Persönlichkeiten oder sogar Führer mit Pomp empfangen, die stark mit dem Kreml verbunden sind. Dasselbe gilt schließlich auch, wenn muslimische Führer, die vorgeben, die Muslime der ganzen Welt zu verteidigen, im Namen ihrer guten Beziehungen zu Peking die Augen vor den Gräueltaten gegen die Uiguren in Xinjiang verschließen.

Die Beispiele ließen sich lange fortsetzen. Man muss verstehen, wie diese verschiedenen Formen der kognitiven Dissonanz ein gefundenes Fressen für die Propaganda sind.

Zunächst einmal verstärken sie den nicht immer falschen Eindruck, dass der Westen inkonsistent ist. Sie zeugen von seiner Unentschlossenheit im Handeln. Sie bieten Angriffsfläche für den Vorwurf der doppelten Rhetorik, die zu den bekanntesten rhetorischen Mitteln der Propagandaerzählung gehört.

Zweitens erleichtern sie es den Diktaturen, das zu untergraben, was die Legitimität freier Demokratien ausmacht und stützt: die Rechtsstaatlichkeit. In dem Moment, in dem diese ungestraft mit Füßen getreten werden kann, in dem man Verbrechen stillschweigend akzeptiert, die Täter nicht verurteilt und den Menschen, deren Leben von Diktaturen zerstört wird, nicht zu Hilfe kommt, ermutigt man sie, bei der Verletzung der Grundrechte immer weiter zu gehen.

Wenn man schließlich aus angeblich diplomatischen Gründen die Öffentlichkeit nicht vor den begangenen Verbrechen und den Angriffen auf die Sicherheit des europäischen Kontinents warnt, erschwert man die Gegenwehr noch mehr. Denn da die Öffentlichkeit nicht vorbereitet ist, trägt man dazu bei, dass sie als unverständlich und schließlich als inakzeptabel wahrgenommen wird. Wie viele Franzosen, Italiener, Spanier, Belgier und sogar Deutsche wissen, dass es einen mörderischen Krieg gibt, der von Russland gegen die Ukraine geführt wird und seit fast acht Jahren andauert? Wie viele wissen, dass der Krieg in Syrien, der von Assad gegen sein eigenes Volk geführt wird und von den Regimen Russlands und des Irans unterstützt und in Verbrechen verwickelt wird, immer noch andauert und etwa eine Million Menschen das Leben gekostet hat? Es ist eine gemeinsame Lehre, dass Verbrechen in der Stille gedeihen. Es wäre eine Pflicht gewesen, dies der Öffentlichkeit in den westlichen Ländern zu sagen und die Vorstellung zu zerstreuen, dass wir mit diesen „endlosen Kriegen“, von denen Präsident Biden gesprochen hat, fertig wären. Nein, der Krieg ist da, und es ist töricht zu glauben, dass wir davon verschont bleiben könnten, solange er an unseren Grenzen stattfindet.

.Daher können und müssen wir zwar mit besonderer Dringlichkeit viel aktiver gegen die Propaganda der ausländischen Medien und ihrer Multiplikatoren vorgehen. Wir müssen auch dringend die Korruption im Zusammenhang mit ausländischen Einflüssen aufspüren und unsere Gesetze verschärfen. Aber solange wir nicht erkennen, wie die Haltung und die Worte einiger unserer führenden Politiker den Einfluss diktatorischer Regime auf unseren Geist und manchmal unbeabsichtigt auch auf ihren Geist fördern, haben wir erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Werden wir nicht nur mutig, sondern auch intelligent genug sein, um das zu verstehen?

Nicolas Tenzer

Dieser Inhalt ist urheberrechtlich geschützt. Jede Weiterverbreitung ohne Genehmigung des Autors ist untersagt. 17/02/2022