Leitkultur
Wir Deutschen sind ein merkwürdiges Volk, Kurt Tucholsky, 1919
.Gibt es überhaupt so etwas wie eine nationale Leitkultur? Der deutsche Innenminister fühlte sich dazu berufen, eine solche zu formulieren, und stellte zehn Punkte auf. Wer an das Geheimnis des technologischen Fortschritts und das deutsche Wirtschaftswunder denkt, den wird die Lektüre ungemein beruhigen: Auch in Deutschland wird nur mit Wasser gekocht.
Und plötzlich war sie da: die neue deutsche Leitkultur. Während Kanzlerin Angela Merkel Ende April einen wenig beachteten Besuch in Saudi-Arabien absolvierte,[1] veröffentlichte ihr Parteikollege, der Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (auch für Sport zuständig), in der deutschen Boulevardzeitschrift BILD einen Diskussionsbeitrag darüber, „was uns im Innersten zusammenhält“. Kurz: die Leitkultur*.
*) Die Leitkultur wird formell ins Polnische als „kultura dominujaca“ übersetzt, doch es ist fast so schwer, den Begriff auf andere Sprachkulturen zu übertragen, wie es früher mit „Kindergarten“ oder „Ersatz“ gewesen ist. Die dann zum englischen „kindergarten“ und polnischen „erzac“ wurden. So ist es vielleicht am leichtesten, dem Beispiel der Schlesier zu folgen, die aus Zollstock ein „colsztok“ und aus Glaskugel auf dem Weihnachtsbaum eine „glaskula“ gemacht haben, und die Leitkultur als „Leitkultura“ im Quasi-Original zu belassen.
Das Interview des Bundesinnenministers zur Leitkultur sorgte für einen kleinen Aufstand in den Medien. Deutschland hätte schon eine Leitkultur, wurde im Netz widersprochen, diese hieße Das Grundgesetz. Wie sich jedoch in den letzten Jahren herausstellte, sei nichts einfacher als das Grundgesetz zu ändern. Die Diskussion um die Privatisierung der Autobahnen zeigte es eindrucksvoll: Der Bundestag brauchte nur wenige Minuten, um die notwendigen Änderungen im Grundgesetz durchzusetzen. Die Berliner Zeitung sprach sogar von einer „der schnellsten Grundgesetzänderungen aller Zeiten“[2]. Dies war nicht die erste Änderung – und vermutlich wird es nicht die letzte bleiben.
So lohnt sich ein Blick auf die Ausführungen des Innenministers, um zu verstehen, was die deutschen politischen Eliten für die Leitkultur halten.
„Wir sind Weltmeister“, hieß es, als die deutsche Fußballmannschaft die Weltmeisterschaft gewann. „Wir sind Papst“, hieß es, als der Deutsche Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde. „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot“, fügt der Innenminister in seiner ersten These hinzu. „Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“
An dieser Stelle darf eine kurze Bemerkung erlaubt sein, denn es könnte sein, dass angesichts der wachsenden Videoüberwachung und Kontrolle, die die Große Koalition noch vor der Bundestagswahl im September im Rahmen des Videoüberwachungsverbesserungsgesetzes durchgesetzt hat, irgendwann heißt: Wir sind alle Burka. Oder wenigstens Kopftuch – Motorradhelm und Skimütze tun es auch. Nicht etwa aus religiösen oder gesellschaftlichen Gründen, sondern um das Gesicht und unsere Identität vor der übermächtigen Kontrolle und Überwachung durch den Staat oder Privatunternehmen zu schützen, die an jeder Straßenecke, im Bus und in der Bahn, auf Bahnhöfen und in Geschäften uns erfassen und aufnehmen. Die Deutsche Post hält trotz Strafanzeige an der Kundengesichtsanalyse in den Postfilialen in Hannover und Hildesheim fest.[3] Im Rahmen des Projekts Sicherheitsbahnhof von Innenministerium, BKA, Bundespolizei und Deutscher Bahn werden aktuell 275 Versuchspersonen gesucht, die das intelligente Überwachungssystem im Pilotprojekt am Berliner Südkreuz Bahnhof testen. „Wer am häufigsten durch die markierten Kamerabereiche läuft, hat die Chance, neben einem Einkaufsgutschein im Wert von 25 Euro einen von drei attraktiven Hauptpreisen zu gewinnen“[4], lockt die Polizei die Freiwilligen.
Zweitens sieht der Innenminister Allgemeinbildung als einen Wert für sich – und nicht nur als ein Instrument. „Dieses Bewusstsein prägt unser Land.“ Es entspreche nicht dem deutschen Verständnis von Bildung, wenn Schule stärker auf spätere Berufe vorbereiten solle: „Schüler lernen – manchmal zu ihrem Unverständnis – auch das, was sie im späteren Berufsleben wenig brauchen.“
„Der Leistungsgedanke hat unser Land starkgemacht“ – ob im Sport, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Politik oder in der Wirtschaft. Für Minister de Maiziere bringen Leistung und Qualität den Wohlstand – so seine dritte These zur Leitkultur. Das trifft aber auch auf die sozialen Sicherungssysteme zu: „Als Land wollen wir uns das leisten und als Land können wir uns das leisten.“
Dies aus dem Munde eines konservativen Politikers zu hören ist eventuell weniger überraschend, wenn man es mit der sechsten These zum deutschen Verständnis von Religion in einen direkten Zusammenhang bringt: „Unser Land ist christlich geprägt“, so de Maiziere. „Wir leben im religiösen Frieden.“ Soziale Sicherung als Ausdruck der christlichen Nächstenliebe? Deutschland sei von einem besonderen Staat-Kirchen-Verhältnis geprägt. „Unser Staat ist weltanschaulich neutral, aber den Kirchen und Religionsgemeinschaften freundlich zugewandt.“ Es seien die kirchlichen Feiertage, die „den Rhythmus unserer Jahre“, und Kirchtürme, die unsere Landschaft prägen.
Ein Teil der deutschen Leitkultur ist auch die Bekennung zur eigenen Geschichte, „mit all ihren Höhen und Tiefen“. Sie prägt die Vergangenheit wie die Gegenwart – und sie prägt die Kultur. „Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte“, lautet These vier. „Dazu gehört auch ein besonderes Verhältnis zum Existenzrecht Israels.“ Es gibt nur noch ein weiteres Land, das in der Leitkultur Erwähnung findet: die USA, als der „wichtigste außereuropäische Freund und Partner“, in These acht, in der sich Deutschland auch zur NATO bekennt.
„Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland“ – eine Aussage, die andere Kulturnationen stillschweigend tolerieren (müssen?). Deutschland hätte großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen, wird in These fünf begründet. Bach und Goethe waren Deutsche. Korrekt. So wie Chopin und Slowacki Polen waren, Aristoteles Grieche bzw. Hellene und Balzac und Debussy Franzosen. Das wird jedoch nicht in der Leitkultur erwähnt. Weitere Indikatoren bestätigen die Kulturnation-These: „Kaum ein Land hat zudem so viele Theater pro Einwohner wie Deutschland.“ Und: „Jeder Landkreis ist stolz auf seine Musikschule.“
„Wir verknüpfen Vorstellungen von Ehre nicht mit Gewalt“, lautet die siebte These. „Der Kompromiss ist konstitutiv für die Demokratie und unser Land.“ Vielleicht sei Deutschland „stärker eine konsensorientierte Gesellschaft als andere Gesellschaften des Westens“, so der Innenminister, „Gewalt wird weder bei Demonstrationen noch an anderer Stelle gesellschaftlich akzeptiert.“ Dies dürfte angesichts der Bilder von brennenden Autos und fliegenden Pflastersteinen anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg Anfang Juli 2017 auf Demonstrantenseite und mit Pfeffergas sowie Wasserwerfern und sogar Schusswaffen hantierender Polizei auf der anderen eventuell etwas verwirren. Doch die Leitkultur entstand mehrere Monate vor den Ereignissen in Hamburg.
„Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus“, bestätigt der Innenminister in These acht. Doch jetzt sind wir „aufgeklärte Patrioten“. Was das bedeutet? „Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere.“ Der deutsche Patriotismus wurde mal zum Nationalismus, „mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen“. All das sei vorbei, vor allem in der jüngeren Generation.
Die These neun umfasst eigentlich zwei Thesen. Erstens: „Wir sind Teil des Westens. Kulturell, geistig und politisch.“ Zweitens: „Als Deutsche sind wir immer auch Europäer. Deutsche Interessen sind oft am besten durch Europa zu vertreten und zu verwirklichen.“ Ohne ein starkes Deutschland gäbe es kein starkes Europa. Außerdem sei Deutschland „vielleicht das europäischste Land in Europa“. Warum? Weil „kein Land […] mehr Nachbarn [hat] als Deutschland“. Dies erinnert an die Worte des ehemaligen polnischen Botschafters in Berlin, Janusz Reiter, Polen hätten jahrelang gedacht, Gott hätte sie mit ihren Nachbarn für ihre Sünden bestraft – und diese Einstellung würde sich nun zum Besseren wandeln.
In der zehnten These werden Orte und Erinnerungen des „gemeinsames kollektiven Gedächtnis[ses]“ der Deutschen aufgezählt. Als da wären: das Brandenburger Tor und der 9. November, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaften, aber auch Karneval, Volksfeste, Marktplätze. Oder „landsmannschaftliche Mentalitäten, die am Klang der Sprache jeder erkennt“.
Die öffentliche Aufregung über die Leitlinien des Bundesinnenministers erstarb so schnell wie sie aufflammte. Beinahe wie eine Vernebelungsstrategie für das kurze, emotionslose, wie auch recht überraschende Zusammentreffen der Kanzlerin mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotchi Anfang Mai, das auf den Besuch in Saudi-Arabien folgte und bei dem sich die beiden sichtlich sehr wenig zu sagen hatten. Noch einige Tage und Wochen danach tauchten im Netz Fragen verwirrter Nutzer auf, was nun aus der Leitkultur geworden sei. Antworten bekamen sie keine.
Was nun? „Wie der Name Kultur schon sagt, geht es hier nicht um vorgeschriebene Regeln“, wird direkt im Beitrag erklärt. „Die Leitkultur prägt und soll prägen. Sie kann und soll vermittelt werden.“ Und vor allem: „Leitkultur kann und soll vor allem vorgelebt werden.“ Warum man dennoch so wenig von dieser „Leitkultur“ auf den deutschen Straßen, in den deutschen Unternehmen oder bei den deutschen Nachbarn sieht? Die Antwort auf diese Frage steht eventuell direkt im Text. In dem Vorschlag, wie nun dieser „Bildungskanon, den alle wissen und lernen müssen“ vermittelt werden sollte. Beispielsweise „in den 100 Stunden der Orientierung in unserem Integrationskurs“, der sich an Bewerber um die deutsche Staatsangehörigkeit richtet.
.Ist die Leitkultur Ausdruck der Erwartungen, die die Deutschen an all diejenigen haben, die in ihr Land kommen und hier leben möchten? Wie man gerne sich selbst sehen und von den anderen gesehen werden will? So betrachtet bringen die zehn Punkte eventuell einen weiteren Aspekt der deutschen Leitkultur zum Vorschein, der in den Thesen des Innenministers keine Erwähnung fand, den aber bereits Kurt Tucholsky, einer der bedeutendsten deutschen Publizisten der Weimarer Republik, wie folgt beschrieb: „Dieses Volk liebt es, Vorschriften zu ersinnen, die immer für die anderen gelten”.
Aleksandra Sowa
Natalia Marszałek
[1] Roßmann, R. 2017. Kanzlerin auf heikler Mission in Saudi-Arabien. In: Spiegel Online, 30.4.2017, http://www.sueddeutsche.de/politik/merkel-in-saudi-arabien-die-kanzlerin-auf-heikler-mission-in-saudi-arabien-1.3484958. [2] Schlieter, K. 2017. Privatisierung der Autobahnen: Eine der schnellsten Grundgesetzänderungen aller Zeiten. In: Berliner Zeitung, 31.5.2017, http://www.berliner-zeitung.de/politik/privatisierung-der-autobahnen-eine-der-schnellsten-grundgesetzaenderungen-aller-zeiten-27015136. [3] NDR. 2017. Post macht mit Video-Gesichtserkennung weiter. 29.6.2017, http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Post-macht-mit-Video-Gesichtserkennung-weiter,gesichtserkennung112.html. [4] Biselli, A. 2017. Polizei sucht Freiwillige: Den Meistüberwachten winken Einkaufsgutscheine. In: netzpolitik.org, 19.6.2017. https://netzpolitik.org/2017/polizei-sucht-freiwillige-den-meistueberwachten-winken-einkaufsgutscheine/.