Die Ukraine oder der Widerstand gegen die imperiale Versklavung
Katharina II., von der Angela Merkel so fasziniert ist, löste gewaltsam die Sitsch auf – den letzten Hort der Selbstverwaltung der freien Kosaken unter ihrer Herrschaft, das letzte Überbleibsel der politischen Tradition der Ukraine.
.Die Bundeskanzlerin Merkel hat Russland immer wieder als „unseren großen Nachbarn“ bezeichnet, ebenso wie ein nicht geringer Teil der heutigen deutschen Medienlandschaft. Wenn man allerdings die gegenwärtige Landkarte Europas betrachtet, muss man zugeben, dass Russland nicht der Nachbar Deutschlands ist. Dazwischen gibt es noch Länder wie Polen, die Ukraine, Litauen, Belarus … Auf dem Schreibtisch der Kanzlerin stand ein Porträt von Katharina II., der Zarin von Allrussland, einer Deutschen, die als die hervorragendste Herrscherin auf dem russischen Thron gilt. Sie tat dies, wahrscheinlich um ein Beispiel für den Erfolg einer Frau in der großen Politik zu vergegenwärtigen, zudem einer, die aus Ostdeutschland (konkret: aus Stettin) stammte.
Irgendwo ging jedoch ein kleiner Pinselstrich in diesem Porträt verloren: Katharina verdiente sich in Russland den Beinamen „die Große“, weil sie die erfolgreichste Westexpansion ihres Reiches im gesamten 18. Jahrhundert durchführte: Sie besetzte die Nordküste des Schwarzen Meeres, die sie „Noworossija“ nannte, und beseitigte den riesigen polnischen Staat, der über acht Jahrhunderte lang bestanden, seit dem 14. Jahrhundert in freiwilliger Union mit Litauen existiert und auch die Gebiete des heutigen Belarus und der Ukraine umfasst hatte. Alexander Puschkin, der großartigste Lobredner des Russischen Imperiums (neben Josif Brodski, der die Ukraine hasste und Fjodor Dostojewski, der Polen und den Westen hasste), stellte fest, dass es eben diese geopolitische Leistung war, die Katharinas wichtigsten Titel für unsterblichen Ruhm darstellte. In seiner privaten und daher aufrichtigen Notiz erinnerte der Dichter ebenfalls daran, dass Katharina auch eine erfolgreiche Expansion in Richtung Norden vorbereitet hatte: die Eroberung Finnlands, die schließlich von ihrem Enkel, Zar Alexander I., durchgeführt werden sollte.
Das aufgeklärte Europa bewunderte Katharina, weil sie nicht nur in der Lage war, Nachbarländer zu erobern, sondern auch die „Trendsetter“ der damaligen öffentlichen Meinung zu kaufen: Voltaire, Diderot, in deutschen Landen den Baron Grimm. Und sie redeten Europa ein, dass die von Katharina eroberten Gebiete nichts anderes als eine Quelle des Chaos, der Anarchie und der Rückständigkeit auf der Landkarte des aufgeklärten Europas seien, wo östlich von Deutschland nur Russland und seine Modernisierung zählen sollten. Eroberung als Modernisierung … Wir sollten hier hinzufügen, dass Katharina im Namen der „Modernisierung“ auch die Sitsch gewaltsam beseitigte – den letzten Hort der Selbstverwaltung der freien Kosaken unter ihrer Herrschaft, das letzte Überbleibsel der politischen Tradition der Ukraine.
Doch woher kam diese Ukraine, die Katharina von der Landkarte und aus dem Gedächtnis streichen wollte, ebenso wie Polen? Die Ukraine, Belarus und Russland haben eine gemeinsame Wiege: die Kiewer Rus. Diese gemeinsame Wiege der ostslawischen Staatlichkeit fiel jedoch im 13. Jahrhundert infolge der Invasion der Mongolen auseinander. Sie wurde anschließend zwischen politische Systeme aufgeteilt, die neue Zentren errichteten: Moskau, das zum Teil die Traditionen des Mongolenreichs übernommen hat und Litauen, das durch die Vereinigung mit Polen die ruthenische Welt (die Kiewer Rus) für die Einflüsse der lateinischen Zivilisation öffnete – Einflüsse, die über Polen nach Litauen und in die litauische Rus, d. h. das heutige Belarus und die Ukraine, gelangten. Im 14. und 15. Jahrhundert gehörten nämlich fast das gesamte Belarus und die spätere Ukraine zum Großfürstentum Litauen.
Durch Polen gelangt also die westliche Zivilisation, die die ruthenische Tradition verändert – sie ergänzt und auf eine neue Weise gestaltet. Diese Einflüsse haben ihre Symbole. Eines dieser Symbole ist das bemerkenswerte Denkmal für das Magdeburger Recht in Kiew – ich hoffe sehr, dass sich diese Stadt von den Kriegswirren erholt und es bald wieder möglich sein wird, sie zu besuchen –, das in der Nähe des Dnjepr-Ufers errichtet wurde. Das Stadtrecht ist keine polnische Erfindung. Das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einer Stadt hat Polen im 13. bis 14. Jahrhundert aus den deutschen Ländern übernommen. Unter anderem wurde Krakau im 13. Jahrhundert auf diese Weise neu gegründet. An der Schwelle zum 16. Jahrhundert wurde auch Kiew auf diese Weise reformiert. Dieses Ereignis, durch das die Kiewer zu Europäern im besten Sinne des Wortes wurden, d. h. zu Menschen, für die Freiheit und Selbstbestimmung das Wichtigste sind, bleibt für sie als großes Ereignis in Erinnerung. Ein ähnliches Denkmal des Magdeburger Rechts, das Bürger beim Wiegen von Waren zeigt, wurde in den 1990er Jahren auch in Minsk aufgestellt, als Belarus versuchte, seine Unabhängigkeit zu festigen.
Das zweite, noch wichtigere Symbol ist die Freiheit, die in der römisch-griechischen Tradition ihre Berechtigung und ihre fundamentale Begründung findet, eine Tradition, die durch die Universitäten von Krakau (gegründet 1364), Vilnius (gegründet 1579) und Lwiw (gegründet 1661) fortgeführt wird (wir sollten daran erinnern, dass die erste Universität in Russland erst 1755 gegründet wurde). Aus dieser Tradition ging die Rechtfertigung der Freiheit als wichtigster Wert im politischen Leben hervor. Die innere, staatsbürgerliche Freiheit spiegelt sich in der Vertragskultur wider, die festhält, dass wir keine angeborenen Herren über uns haben. Wir, die wir unsere Regierenden wählen, und die Regierenden, die in Kürze von uns regiert werden können – was von den Wahlen abhängt –, vereinbaren, wie dieser Vertrag aussehen wird. Ebendiese Tradition einer Vereinbarungs- und Wahlkultur, eine Tradition der Freiheit, die sich im Wahlrecht jedes freien Bürgers in der regionalen Versammlung ausdrückte, blühte auch in den Ländern des Großfürstentums Litauen – und damit auch in der Rus (d. h. in dem heutigen Belarus und in der Ukraine). In den Ländern der Rus traf der Impuls der Selbstbestimmung auf eine neue Tradition, die von den freien Kosaken geschaffen wurde. Denn auch die Kosaken trafen sich auf dem Feld, wo sie berieten, jeder das Recht hatte, sich zu äußern, und wo sie gemeinsam einen Hetman wählten. Sie wählten denjenigen, der sie so lange regieren würde, wie die Bürger dieser Gemeinschaft, d. h. die freien Kosaken, es wünschen würden. Um den Hetman herum wurde ein Rat, eine Art Senat, gebildet, der aus Obersten bestand. Jeder der Obersten wurde in seinem Regiment gewählt, womit eine Art politische Selbstverwaltung entstand. Das Phänomen der freien Kosaken, dessen organisierte Form in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerade am Entstehen ist, ist verbunden mit dem Aufkommen des offiziellen Namens „Ukraine“ als Bezeichnung für das Gebiet, in dem sich diese Schar unabhängiger, freier und ihre Freiheit verteidigender Geister bildet. Die Kosaken verteidigten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die Grenzen der Polnischen Republik, sowohl gegen Moskau (Russland) als auch gegen die Türkei. Die sozialen und religiösen Konflikte im polnischen Staat, in dem die Kosaken nicht die volle bürgerliche Freiheit erhielten, führte jedoch dazu, dass sie der Versuchung nicht widerstanden, sich an Moskau zu wenden. Diese Versuchung führte zu der – verhängnisvollen – Entscheidung von Bohdan Chmelnyzkyj, dem Anführer des größten aus einer Reihe ukrainischer Aufstände, im Januar 1654 ein Bündnis mit Moskau (Russland) zu schließen. Chmelnyzkyj ging davon aus, dass das Ergebnis ein gleichwertiges Abkommen sein würde, das im Namen des Zaren von dessen Gesandten unterzeichnet und der Ukraine volle Autonomie in dem neuen Verbund garantierten würde. Dann erfuhr er vom Gesandten des Zaren, wie sehr sich die politische Kultur in Moskau von der in der Polnischen Republik unterschied: „Im Moskauer Zarentum schwören die Untertanen, dass sie sich freuen, dem großen Zaren zu dienen, und dass das Schwören im Namen des Zaren niemals stattgefunden hat und niemals stattfinden wird …”. Chmelnyzkyj trat nicht aus dem Bündnis mit Moskau aus, aber ein großer Teil der Kosaken bevorzugte es, in die Polnische Republik zurückzukehren oder sich mit der Türkei bzw. sogar Schweden zu verbünden, um nicht unter die despotische Herrschaft der Zaren zu geraten. Russland nutzte jedoch diesen Moment der Krise. Obwohl die Polnische Republik noch versucht hatte, 1658 in Hadjatsch ein neues, gleichberechtigtes Bündnis mit den Kosaken, d. h. mit der Ukraine, zu schließen, konnte sie das Land nicht mehr halten.
.Der Konflikt zwischen den Kosaken und dem polnischen Adel bildete die Grundlage für den ersten großen Erfolg Russlands bei seiner Expansion nach Westen: die Eroberung der östlichen Hälfte der Ukraine im Jahr 1667. Doch die Kosaken haben ihre Tradition der Freiheit nicht vergessen. Sie werden sie im Laufe des 18. Jahrhunderts für sich beanspruchen (der Hetman Ivan Mazepa und sein Nachfolger Philip Orlik symbolisieren diese Bewegung). Nach der vollständigen Aufhebung ihrer Autonomie durch Katharina II. werden sie ihre nationale Identität mühsam wiederbeleben. Ähnlich haben sich die Polen und Litauer nicht damit abgefunden, dass ihnen ihre Unabhängigkeit von Russland, Preußen und Österreich genommen wurde. Und sie kämpften dafür, mit Säbel und Feder, vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1918, als sie diese Unabhängigkeit wiedererlangten. Die Ukrainer hatten damals keinen Erfolg. Sie mussten bis zum Jahr 1991, d. h. bis zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums, für die Wiederherstellung ihres unabhängigen Staates kämpfen. Mehrmals kämpften sie in der Geschichte gegen die Polen, aber am Ende erwiesen sich die gemeinsame Tradition der Freiheit, des Widerspruchs gegen die imperiale Unterdrückung und auch die Tradition der Erinnerung an die Opfer, die im Kampf gegen das zaristische und dann sowjetische Verfolgungssystem gebracht worden waren, als stärker. Die Polen, Ukrainer, Litauer und andere Nationen dieser Region, die weder Putins „Russkij Mir“ noch ein Spielstein im Spiel anderer europäische Großmächte sein will, machen heute ihre Präsenz deutlich: durch ein stolzes „Veto“, das von freien und solidarischen Nationen gegen den Versuch eingelegt wurde, die imperiale Vorherrschaft über Osteuropa zu erneuern.
Andrzej Nowak