
Die Rechnung für die ungeheuren Verluste, die Polen durch den Krieg erlitten hat, kann nicht als verjährt angesehen werden
Die polnisch-deutsche Aussöhnung ist ins Stocken geraten, und daran ist nicht die polnische Seite schuld. Jahrelang habe die deutsche Seite keine Maßnahmen zum Gedenken an die polnischen Opfer des Dritten Reiches ergriffen, schreibt Prof. Wojciech ROSZKOWSKI
.Was geschah am 1. September 1939? Für einen Polen klingt diese Frage ziemlich bizarr. Fast jedes polnische Kind wird antworten, dass Deutschland damals Polen angegriffen hat. So wird es antworten, vielleicht noch ohne Schulbücher lesen zu können, denn die Erinnerung an diese Tragödie und ihre Folgen ist in den allermeisten polnischen Familien noch lebendig. Für Besucher des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel wird die Antwort auf diese Frage aber nicht einfach sein. In der Informationsflut über das böse Mittelalter, den guten Karl Marx, die deutsch-französische Aussöhnung und die glänzende Zukunft Europas unter der Herrschaft von Berlin und Paris wird ihnen dieses Datum sicherlich nicht ins Auge fallen. Im Interesse einer friedlichen Zukunft müssen die Europäer die Vergangenheit vergessen. Die Rechenschaft über das getane Unrecht wird in Vergessenheit abgeschoben.
Natürlich trägt das ständige Zerkratzen der Wunden nicht zu einer friedlichen Zukunft bei. Das Problem liegt darin, wer und was vergessen will und mehr: wie er das europäische Gedächtnis prägen will. Es gibt keine moralisch neutrale Geschichte, ebenso wenig wie es eine moralisch neutrale Politik gibt, und die Politik der Erinnerung ist immer noch allgegenwärtig, wenn auch nur in der Form des Verwischens der Spuren der Vergangenheit. Man kann sagen: Je deutlicher dieses Verwischen sichtbar ist, desto mehr werden diese Spuren zu eiternden Wunden. Nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 förderten die Kommunisten die „nationale Versöhnung“. Im Kontext der Massenverhaftungen und der Aufhebung der Reste bürgerlicher Rechte war es schwierig, dieses Programm anders als „Versöhnung der Peitsche mit dem Rücken“ zu bezeichnen, und es ist kaum verwunderlich, dass Millionen Polen einer solchen „Versöhnung“ nicht zustimmten. Langfristig beginnt die deutsch-polnische Aussöhnung derartig auszusehen.
Die polnisch-deutschen Beziehungen bestehen seit über tausend Jahren, mit wechselbarem Erfolg. In dieser Zeit gab es bessere und auch schlechtere Zeiten, und die positiven Elemente des Einflusses der deutschen Kultur auf die Geschichte Polens sollten nicht vergessen werden. Allerdings gab es auch dramatisch schlechte Jahre. Es reicht aus, an die Teilungen der Republik Polen-Litauen am Ende des 18. Jahrhunderts zu erinnern, an den Kulturkampf, an die Aktionen des Deutschen Ostmarkenvereins (in Polen höhnisch Hakata genannt), an die nach 1918 wiederauflebende Feindseligkeit der Weimarer Republik gegenüber Polen und schließlich an die langfristigen Folgen des deutschen Angriffes vom 1. September 1939 und die völkermörderische Politik des Deutschen Dritten Reiches gegenüber der polnischen Bevölkerung.
Ohne den deutschen Angriff hätte es nicht den sowjetischen Angriff am 17. September 1939 gegeben, der letztendlich dazu geführt hat, dass Polen, obwohl formell ein Mitglied der Siegerkoalition, zum Verlierer geworden ist: nach 1945 unter sowjetische Kontrolle gebracht und 45 Jahre lang sowjetisiert. Was die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens angeht, würde die polnische Wirtschaft heute wie in den 1930er Jahren mit der spanischen oder finnischen konkurrieren anstatt die Verluste der drei versklavten Generationen mühsam auszugleichen.
Nach 1990 war das vereinte Deutschland bereits eine Macht, während das durch den Kommunismus ruinierte Polen als Opfer des Schicksals und nicht als Opfer einer finsteren Geschichte behandelt wurde. Die polnisch-deutsche „Aussöhnung“ sah vielversprechend aus, ebenso wie das Friedenszeichen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki in Kreisau. Das geeinte Deutschland unterstützte die polnischen Ambitionen auf eine Mitgliedschaft in der EU und der NATO und nutzte dabei die Öffnung der polnischen Wirtschaft für deutsche Waren und Investitionen. Allerdings erkannte man in Berlin zunehmend, dass es in den gegenseitigen Beziehungen keinen Grund mehr gab, sich um die Vergangenheit zu kümmern. Ein Signal dieser neuen Haltung gegenüber Polen kam mit der Aktivität von Frau Erika Steinbach und den Organisationen der Umgesiedelten, die von der Regierung geduldet wurden, die inzwischen von Bonn nach Berlin verlegt wurde. Immer mehr Polen rieben sich verwundert die Augen über die deutschen Ansprüche auf Entschädigung für die nach dem Krieg verlorenen Gebiete, als ob diejenigen, die diese Ansprüche stellten, den Grund für die Grenzänderungen im Jahr 1945 vergessen hätten. Die deutschen Massenmedien propagierten die Verantwortung der „Nazis“, als ob Deutschland in den Jahren 1933–1945 von fremden Mächten regiert worden wäre, vermieden das Thema polnischer Opfer des Dritten Reiches und erwähnte sogar polnische Kollaborateure, die in der Wirklichkeit auf polnischem Boden äußerst selten waren. Der Höhepunkt der Unverschämtheit wurde mit dem mit deutschen Staatsgeldern finanzierten Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ erreicht, in dem die heldenhafte polnische Heimatarmee, die für die Unabhängigkeit Polens kämpfte, als eine Handvoll grimmiger Antisemiten dargestellt wurde.
Heute versucht Deutschland, in Europa Karten auszuteilen. Es ist die größte Volkswirtschaft, aber beansprucht auch das Recht, ihren Opfern aus der jüngsten Vergangenheit Demokratie beizubringen und sich in das politische Leben Polens einzumischen. Da die heutigen deutschen Behörden jedoch das Ende des Zweiten Weltkriegs als den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus feiern, kann man sich fragen: Warum fielen die Deutschen in diesen Albtraum und warum konnten sie sich nicht daraus selbst befreien? Ist die Erinnerung ans Jahr 1945 der beste Anlass, die Vormachtstellung der deutschen Demokratie zu feiern? War tatsächlich der einfachste Weg, um in Polen oder in der Ukraine Demokratie einzuführen, sich von Gas- und Öllieferungen aus Russland abhängig zu machen und so russische Aufrüstung zu finanzieren?
Die polnisch-deutsche Aussöhnung ist ins Stocken geraten, und daran ist nicht die polnische Seite schuld. Jahrelang hat die deutsche Seite keine Maßnahmen zum Gedenken an die polnischen Opfer des Dritten Reiches ergriffen. Es gab Gedenkfeiern für Juden, Roma und sogar Homosexuelle, nur polnische Opfer konnten eine solche Tat nicht erwarten. Zuletzt gab es Anzeichen dafür, dass in dieser Richtung Maßnahmen ergriffen werden sollten, doch plötzlich, Anfang Juni, kam die deutsche Kulturministerin Claudia Roth unerwartet nach Polen mit dem Angebot, statt eines Denkmals ein Deutsch-Polnisches Haus zu errichten für polnische Opfer als Ort der „Debatte“ über die „tausendjährige Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen“. Anstatt sich mit Fakten und Problemen auseinanderzusetzen, die es zu lösen gilt, wird uns eine endlose Debatte über ein anderes Thema geboten. Das erinnert uns an das alte Sprichwort, dass Gentlemen nicht über offensichtliche Fakten diskutieren. Die Ministerin erklärte auch, dass die sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs keinen Schatten auf diese Beziehungen werfen dürften.
.Um diesen Schatten zu beseitigen, müssen die Deutschen heute ihre Haltung gegenüber Polen gründlich überdenken. Die Rechnung für die ungeheuren Verluste, die Polen infolge der Aggression vom 1. September 1939 erlitten hat, kann von ihnen nicht einseitig als verjährt erklärt werden. Es ist nicht der Täter, der das Ausmaß des von ihm angerichteten Schadens bestimmt. Die polnische Rechnung ist jedenfalls nicht besonders übertrieben und ist nur allzu gut dokumentiert.
Wojciech Roszkowski