Roger MOORHOUSE: Schamloses Putin-Rußland

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Roger MOORHOUSE

Britischer Historiker und Germanist, der sich auf europäische Geschichte der Neuzeit spezialisiert, vor allem auf das Dritte Reich, den Holocaust sowie den Zweiten Weltkrieg. Er verfasste unter anderem das Werk „First to Fight. The Polish War 1939”.

Es gibt kein Körnchen Wahrheit in den Anschuldigungen, dass Polens Zusammenarbeit mit Hitler zum Ausbruch des 2. Weltkrieg geführt hat.

Ohne den Hitler-Stalin-Pakt (In Polen als der Ribbentrop-Mołotow-Pakt bekannt) wäre der 2. Weltkrieg nicht ausgebrochen. Dieser Pakt ermöglichte es Hitler, Polen anzugreifen – da Hitler nach seiner Unterzeichnung die Sicherheit gewonnen hatte, dass kein anderes Land ihn daran hindern würde. Nur die Briten und Franzosen haben Polen Hilfe zugesprochen. Sie waren jedoch nicht imstande, wirkungsvoll ihre Kräfte zu bündeln, um dies durchzusetzen. Mit Sicherheit jedoch war Stalin dazu fähig. Mit dem Unterzeichnen des Paktes hat er sich jedoch dazu entschlossen, sich herauszuhalten.

Dem Anschein nach waren Nazi-Deutschland und die Sowjetunion auf entgegengesetzten Seiten der ideologischen Auseinandersetzung. Es ist aber erwähnenswert, dass sie 1939 viele gemeinsame strategische Ziele hatten. Beide Länder waren revisionistische Kräfte, die das Versailler-System zerschlagen wollten, das sich nach dem 1. Weltkrieg herauskristallisiert hatte. Beide Länder haben in Folge des Versailler-Vertrages Gebiete verloren, die sie als ihre eigenen ansahen – und wollten sie wiedererlangen. Beide Länder hatten eine zutiefst feindliche Einstellung zu Polen. Für die Sowjetunion und Deutschland war die Existenz Polens als ein unabhängiger Staat eine Erinnerung an die Demütigung, mit der für sie der 1. Weltkrieg endete. Vor allem jedoch wollten beide Länder einen Krieg in Europa. Diese Tatsache machte sie zu natürlichen Verbündeten. Als sie es geschafft hatten, die ideologischen Unterschiede zu überwinden, konnten sie 1939 ein gemeinsames Abkommen unterzeichnen.

Hitler hat diesen Pakt von Anfang an als eine temporäre Lösung betrachtet. So erreichte er das Ziel, Polen zu isolieren, mit einem gleichzeitigen Zugang zu russischen Bodenschätzen, die sich als sehr nützlich erwiesen, als die deutschen Truppen 1940 Frankreich angriffen. Die Sowjets haben in diesem Pakt auch viele wirtschaftliche Vorteile für sich entdeckt. Sie wollten vor allem das deutsche technische Know-How nutzen. Kaum jemand erinnert sich daran, aber in 22 Monaten Zusammenarbeit haben Deutschland und die Sowjetunion drei weitreichende Wirtschaftsabkommen unterzeichnet.

Es gibt kein Körnchen Wahrheit in den Anschuldigungen, dass Polens Zusammenarbeit mit Hitler zum Ausbruch des 2. Weltkrieges geführt hat. Dieses Argument kehrt von Zeit zu Zeit zurück– es handelt sich dabei jedoch um ein altes sowjetisches Argument, welches heute schamlos durch Putins Russland wiederholt wird. Auf diese Weise versucht Russland, gezielt die wahre Bedeutung des Stalin-Hitler-Paktes zu verzerren, indem es ihn mit dem Abkommen gleichsetzt, das Polen mit Deutschland 1934 unterzeichnet hat.

Das Vergleichen beider Abkommen stellt eine historische Unehrlichkeit dar, da die Unterschiede zwischen ihnen enorm sind. Der deutsch-polnische Vertrag war ein typischer Friedenspakt – und nichts mehr. Abkommen dieser Art waren im Europa der 30er Jahre des 20. Jahrhundert beinahe Standard. Unterdessen hatte der Stalin-Hitler-Pakt, obwohl dieser formell auch den Namen Friedenspakt trug, damit nichts zu tun. Vor allem, weil ihm ein Geheimprotokoll angehängt wurde, in dem beide Länder sich auf eine Teilung der Länder im Mitteleuropa geeinigt haben. Diese Tatsache macht aus dem sogenannten deutsch-sowjetischen Friedenspakt in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Der Pakt war ein Abkommen zwischen zwei Ländern, die feindliche Absichten gegenüber Polen hatten.

Die Frage, ob Polen dem Schrecken des 2. Weltkriegs hätte entkommen können (während des 2. Weltkrieges starb jeder fünfte Pole), ist bis heute eine der brennenden Fragen in historischen Diskussionen in Polen. Natürlich ist es etwas Normales, alternative Szenarios zu analysieren und Möglichkeiten zu erwägen, wie das tragische Schicksal hätte vermieden werden können. Einer die häufig wiederkehrenden Fäden in solchen Diskussionen ist das Konzept der Zusammenarbeit mit Hitler. Wenn es jedoch zu einem solchen Bündnis gekommen wäre, wäre Polen in gleicher Situation wie Ungarn 1939. Dies hätte bedeutet, dass Warschau den Ländern der Nazi-Verbündeten beigetreten wäre. Sicherlich hätte dies Konsequenzen auf die Zahl der polnischen Kriegsopfer – mit ziemlicher Sicherheit wäre die Zahl geringer.

Es ist jedoch auch lohnenswert, weitere Konsequenzen zu bedenken. In diesem Szenario wäre Polen gezwungen, aktiv an den Kriegshandlungen des 3. Reiches mitzuarbeiten. Das hätte bedeutet, dass das polnische Militär am Überfall weiterer Länder beteiligt gewesen wäre, darunter auch der Sowjetunion. Dies hätte aber auch eine Zusammenarbeit mit den Deutschen in ihrer Rassenpolitik bedeutet. Die Polen hätten sich an der Ausrottung von Juden beteiligen müssen, die in Polen eine der größten Populationen Europas darstellten. Das wäre die Alternative gewesen. Polen hätte während des Kriegs die Chance auf weniger Verluste an Menschenleben – der Preis dafür wäre jedoch die moralische Verantwortung für den Holocaust.

.Der Stalin-Hitler-Pakt war fast zwei Jahre in Kraft, bis zu dem Tag, an dem Hitler im Jahre 1941 beschloss, die Sowjetunion anzugreifen. Auf diese Weise wurde die Sowjetunion eigentlich automatisch Verbündeter der Alliierten und im Jahre 1945 „befreite” sie die Länder Mitteleuropas. Unterdessen kämpfte Polen von Anfang an – vom ersten Tag des Kriegs an – an der Seite der Alliierten. Trotzdem unterschied sich ihr Nachkriegsschicksal in keiner Weise von Ungarn, welches ein naher Verbündeter von Nazi-Deutschland war oder der Tschechoslowakei, die während des 2. Weltkriegs nicht existierte. Das ist eine der Konsequenzen dieses Paktes.

Roger Moorhouse
Veröffentlichter Text in der monatlichen Ausgabe „Wszystko Co Najważniejsze“, Vol. 19 [LINK], zudem in der Washington Post und dem Tagesspiegel im Rahmen eines historischen Bildungsprojektes des Instytut Nowych Mediów und der Polska Fundacja Narodowa.

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