Eryk MISTEWICZ: Das ist unsere gemeinsame Geschichte

Das ist unsere gemeinsame Geschichte

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Eryk MISTEWICZ

Vorsitzender des Instituts für Neue Medien, Herausgeber der Monatszeitschrift „Wszystko Co Najważniejsze”, ausgezeichnet mit dem polnischen Pulitzer-Preis.

Ryc.: Fabien Clairefond

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Diese Zeit ist in Polen immer noch lebendig.

.Jede Familie in Polen hat während des Krieges jemanden verloren. Die größten Verluste verzeichneten die polnischen Intellektuellen. Professoren und Lehrer, Vertreter der Kultur, Offiziere, Unternehmer und Priester wurden zum Ziel der deutschen Besatzer als die Deutschen am 1. September 1939 Polen angegriffen und somit den Zweiten Weltkrieg begonnen haben. Wenige Tage später, nachdem Frankreich und Großbritannien Polen ihre Hilfe verwehrt haben, wurden die polnischen Intellektuellen erneut zum Ziel, dieses Mal auch von Sowjetrussland, dem zweiten Besatzer, dessen Streitkräfte am 17. September 1939 in Polen einmarschierten.

Warschau, meine Stadt, wurde dem Erdboden gleichgemacht. In der Knautschzone zwischen Deutschland und Russland gab es in den letzten Jahrhunderten ständig Teilungen, Exterminierung, Deportationen nach Sibirien und nach dem September 1939 Massenrazzias und Deportationen in Konzentrationslager sowie eine Massenemigration nach Frankreich, die USA oder Großbritannien. Jede polnische Familie kann ihre eigene Geschichte erzählen!

Wenn Sie Polen treffen und diese Ihnen ihre Geschichte erzählen, auch die Geschichte ihrer Familie, dann hören Sie phantastische Erzählungen. Aber dann kommen auch schnell die Fragen über die Franzosen und die Briten auf. Warum haben sie trotz der Abkommen keine Hilfe dem von den Deutschen angegriffenen Polen geleistet? Vielleicht hätten sie damals zusammen Hitler aufhalten können? Vielleicht wäre es gar nicht zu dem brutalsten aller Kriege gekommen? Denn, dass die Polen den angegriffen Franzosen oder Briten im September 1939 zur Hilfe geeilt wären, daran habe ich aufgrund der polnischen Mentalität, ihrer Solidarität und der Liebe zur Freiheit und Heldentum keinen Zweifel.

Polnische Mathematiker haben die Enigma-Maschine zur Chiffrierung strategischer Mitteilungen ausgearbeitet. Polnische Flieger haben in der Staffel 303 London verteidigt. Polnische Diplomaten retteten Pierre Mendes-France, den späteren französischen Ministerpräsidenten, indem sie ihm einen gefälschten Pass ausstellten und bei der Flucht geholfen haben. Die polnische Allee in Yad Vashem mit Namen all jener, die Juden geholfen haben, ist die längste von allen Alleen.

Wenn meine Landsleute Ihnen Warschau zeigen dann führen sie Sie zum Königsschloss und in die Warschauer Altstadt. Sie werden sich wundern, dass dies alles aus dem Nichts wiederaufgebaut wurde, nach all den Bränden der deutschen Luftwaffe, die diese Gebäude dem Erdboden gleichgemacht hat.

Meine Landsleute werden Ihnen erzählen, wie die Warschauer die Juden und ihren Aufstand im deutschen Ghetto unterstützt haben. Sie werden Sie dazu anregen, das Museum der Familie Ulma zu besuchen, das alle Familien gedenkt, die von den Deutschen für die Unterstützung von Juden während des ganzen Krieges erschossen wurden. Es sind viele, sehr viele polnische Familien, die erschossen oder bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Nur, weil sie Juden versteckt gehalten haben, drohte ihnen der Tod durch Deutsche Hand.

Die Polen werden Ihnen über den Rittmeister Witold Pilecki erzählen. Es lohnt sich, diesen Namen im Gedächtnis zu behalten. Er ging freiwillig nach Auschwitz, seine Berichte von dort alarmierten die Alliierten, die aber nichts unternommen haben, um die Hölle des deutschen Todeslagers zu beenden. Er überlebte mehrere Male den eigenen Tod. Pilecki wurde nach dem Krieg von den Kommunisten umgebracht.

Die Polen, denen Sie begegnen, werden Sie in das Museum des Warschauer Aufstands führen, welches erst auf Initiative von Lech Kaczyński, dem ehemaligen polnischen Präsidenten, gegründet wurde. Über Jahrzehnte durfte man nicht über den Warschauer Aufstand sprechen. Für die Erinnerung an die neuste Geschichte drohten Strafen, bis hin zu Entlassungen oder Freiheitsentzug. Der Aufstand begann als die Deutschen noch in der Stadt waren und die Russen sich schon der polnischen Hauptstadt näherten (wenngleich die letzteren kurz vor der Stadt anhielten und zusahen, wie die Deutschen die Stadt zerstörten und niederbrannten). Die zigtausend Opfer sind immer noch sehr lebendig im Bewusstsein der Polen. Auch deswegen, weil nach den Konferenzen in Jalta, Teheran und Potsdam die Großmächte beschlossen, dass Polen sich für viele Jahrzehnte in dem russischen Einflussgebiet befinden sollte und zwar mit dem Zwang, Kontributionen zu zahlen. 

Aber auch dank der Aufstände in den Jahren 1956, 1970, 1980, dank der „Solidarność”, dank dem unruhigem polnischen Geist, stellen die östlichen Grenzgebiete von Europa eine Garantie für Sicherheit dar, zumal sie seit nicht allzu langer Zeit von der EU und der NATO verstärkt worden sind. Sie sind eine Art Kopfkissen für Migranten, da sie über 2 Mio. Migranten aus der Ukraine aufgenommen haben. Polen nimmt die meisten Staatsbürger aus Ländern außerhalb der EU an, das Land erteilt die meisten Aufenthaltsgenehmigungen pro 1000 Einwohner (15,2 Polen, 13,1 Großbritannien, 6,0 Deutschland, 3,5 Frankreich).

Um Polen zu verstehen, anstatt es dafür anzugreifen, dass wir ständig etwas wollen, dass wir etwas Wichtiges verteidigen, möchte ich Sie bitten, unsere Geschichte zu begreifen. Unsere bis zum Wahnsinn reichende Liebe der Freiheit, und wie gut wir Heldentum und Solidarität mit anderen verstehen. Wie viel wir aus unserer Geschichte und Identität schöpfen. 

.Der 1. September 1939 ist für Polen ein wichtiger Jahrestag – der Tag, an dem unser Land aufgehalten wurde, unsere intellektuelle Elite, unser Volk (enorme demografische Verluste!), unsere Wirtschaft und unsere Zukunft vernichtet wurden. Stillstand für viele Jahrzehnte. Heute, wo wir uns davon erholen, erzählen wir Ihnen unsere Geschichte. Wir sind in einem Europa, das ist unsere gemeinsame Geschichte.

Eryk Mistewicz

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