Natalia MARSZAŁEK, Aleksandra SOWA: Der große Crash. Wofür man Technologie nutzt – und wofür sie trotzdem gut ist.

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Aleksandra SOWA

Leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst-​​Görtz-​​Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Sowa ist Autorin diverser Bücher und Fachpublikationen und begleitete u.a. als Mitglied der Internet Redaktion die Wahlkampftour des Bundeskanzlers a.D. Gerhard Schröder.

Ryc.: Fabien Clairefond

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Natalia MARSZAŁEK

Absolventin der Fachrichtung Innere Sicherheit mit Spezialgebiet System- und Informationssicherheit. Liest Fantasy. Liebt Hohe Tatra. Schreibt Prosa.

Der Crash wird kommen. Morgen oder übermorgen. Nächste Woche. Im nächsten Monat oder in einem Jahr, spätestens. Bald, jedenfalls.

Das Platzen einer Techblase, Börsencrash, Wirtschaftskrise – oder mindestens ein Kurssturz. Der deutsche Aktienindex fällt schon mal auf sein Jahrestief, in Argentinien soll der Staatsbankrott vor der Tür stehen, in Venezuela sowieso, Donald Trump wird die Welt in den nächsten Handelskrieg führen, und die Ukraine ruft Kriegsrecht aus. Ökonomen und Börsenexperten sehen ihn kommen; Nostradamus hat ihn vorausgesagt, zuletzt auch der Buchautor Marc Friedrich in Sonst knallt’s: den nächsten Crash.

Optimum non plus ultra

.Wieso der Crash kommen muss, ist jedem klar: Die Kennzahlen sind schlecht. Wenngleich nicht alle. Und nicht gleichzeitig. Welche Parameter oder Indikatoren genau die Krise andeuten – gerade was die Börse und Aktienkurse betrifft –, ist nicht eindeutig zu sagen. Der Grund, warum es für den Anleger so schwer ist, sich zu orientieren oder eine objektive Entwicklungsprogose für die Aktienkurse, den Aktienmarkt oder einfach für eine Portfolioentwicklung zu erstellen, ist mitunter, dass der eine aussagekräftige Indikator dafür, wie sich die Wirtschaft entwickelt, nicht existiert.

Verhängnisvolle Folgen vergangener Krisen – ob der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973 oder die beiden Aktienmarktabstürze nach der Jahrtausendwende – haben Begehrlichkeiten geweckt, ein ultimatives Instrument oder wenigstens einen Indikator zu entwickeln, der als Vorbote solcher Krisen dienen könnte. Nicht nur, um sich auf Krisen vorzubereiten oder die Notkassen aufzufüllen, sondern damit der Staat und seine Institutionen rechtzeitig Gegenmaßnahmen einleiten und gegebenenfalls die Krise abwenden können. Als einer der komplexeren, aber sich bisher immer als zuverlässig erweisender Indikator für bevorstehende Aktienkrisen gilt das sogenannte Hindenburg-Omen – benannt nach dem deutschen Zeppelin „Hindenburg“, der im Jahr 1937 bei der Landung in New York in Flammen aufging. 36 Menschen starben.

Das Omen

.Das Hindenburg-Omen gilt als technisches Signal und Vorbote heftiger Kursabstürze. Die sich nähernde Börsenkrise wird anhand folgender fünf Kriterien zur Erfüllung des Hindenburg-Omens festgemacht:

  1. Die Zahl der Aktien, die neue 52-Wochen-Höchststände erreichen, übersteigt 2,2 % aller Aktien, die an der New York Stock Exchange (NYSE) gehandelt werden. Gleiches gilt für die Zahl der Aktien, die neue 52-Wochen-Tiefstände markieren.
  2. Die kleinere der beiden Zahlen liegt mindestens bei 69.
  3. Die Zahl der Aktien auf einem 52-Wochen-Hoch liegt maximal doppelt so hoch wie die der Aktien auf einem 52-Wochen-Tief.
  4. Der gleitende 10-Wochen-Durchschnitt des NYSE Composite Index steigt.
  5. Der NYSE McClellan Oszillator (ein Momentum-Indikator) zeigt nach unten.

Das einmalige Auftreten des Omens reicht aber nicht aus, um eine Krise vorherzusagen. Um das technische Bild zu bestätigen, müssten innerhalb von 36 Tagen erneut alle fünf Kriterien erfüllt sein. Und auch dann, wenn alle Kriterien erfüllt sind, steht der Kursabsturz immer noch nicht endgültig fest. Das Auftreten eines Hindenburg-Omens verurteilt den Aktienmarkt nicht in jedem Fall zu einer Abwärtsbewegung – Fehlsignale sind möglich. Einer der Gründe, warum die ARD seine Prognosefähigkeit als umstritten bezeichnet: „Nur in etwa 25 Prozent aller Fälle folgten auf ein Hindenburg-Omen signifikante Kurseinbrüche.“[1]

Der (ganz sichere) Indikator

.Das Hindenburg-Omen ist tatsächlich ein Indikator für mögliche Kursabstürze – und keine Voraussetzung dafür. Da es in den vergangenen Jahrzehnten keinen Börsensturz gab, dem nicht ein Hindenburg-Omen vorausging, nimmt man die Signale des Omens ernst – das Risiko in Kauf nehmend, dass es sich dabei auch um ein Fehlsignal handeln könnte.

Das deutsche Magazin WirtschaftsWoche hat im Oktober neun Kennzahlen ausgewählt, „die in der Vergangenheit meist gut funktioniert haben“[2], und diese ausgewertet. Das Fazit: Nicht jeder Indikator hat auf einen Kurssturz hingewiesen – aber nur einer wies auf einen Börsenaufschwung hin. Von noch relativ übersichtlichen, wie das (μ,σ)-Prinzip für Bewertung einzelner Aktien oder ihrer Portfolien, das Bernoulli-Prinzip, über die komplexeren, wie Renditedifferenz, Kurs-Buchwert-Verhältnis, bis hin zu den esoterisch anmutenden, wie Anlegerstimmung oder Angstbarometer. Die Prognose, die verschiedene Kennzahlen über die künftige Marktentwicklung bieten, ist … differenziert. Die Entscheidung, welchen Indikatoren man Glauben schenken und folgen möchte, muss der Anleger selbst treffen. Zuzüglich potenzieller Konsequenzen, sich auf einen falschen Indikator verlassen zu haben. Ein guter Indikator fiel der WirtschaftsWoche dann doch noch ein: Ein untrügliches Zeichen für fallende Kurse, sei, wenn die Boulevardpresse anfängt, ihren Lesern Anlagetipps zu geben.[3]

Alter Techno

.Die verheerenden Folgen früherer Börsencrashs haben nicht nur die Finanzmathematiker dazu veranlasst, den Vorboten der Krisen solch abschreckende Namen wie „Hindenburg-Omen“ zu geben, sondern auch zu einem insgesamt risikoaversen Verhalten verleitet. Wenn es um den Aktienmarkt geht, scheint das Prinzip zu gelten, beim Rascheln im Busch nachts im Wald lieber die Flucht zu ergreifen und später festzustellen, dass es nur eine Katze war, als weiter sitzen zu bleiben und von einem Bären gefressen zu werden. Dies ist womöglich einer der Gründe für eine stets schlechte Stimmung bei den Ökonomen und Börsenexperten: Denn irgendeiner der Indikatoren zeigt immer nach unten.

Die stets schlechte Stimmung in Bezug auf die Märkte zeigt aber noch etwas: Die Digitalisierung, Automatisierung und Sammlung von Massen an Daten haben die Prognosen nicht wesentlich verbessert. Mit steigender Rechenleistung und immer größerer Verfügbarkeit starker Software und Hardware dürfte eine laufende Ermittlung der Indikatoren – auch so komplexen wie dem Hindenburg-Omen – direkt aus den Life-Daten kein Problem darstellen. Nicht viele Menschen können ein System mit drei Gleichungen und drei Unbekannten im Kopf rechnen – sie benötigen dazu Werkzeuge, wenigstens einen Stift und ein Blatt Papier. Rechnen können Maschinen besser, schneller, effizienter und zuverlässiger, sie betreiben inzwischen automatisiert den Aktienhandel, kaufen und verkaufen schneller als die Börsenmakler und können Millionen von Transaktionen in Millisekunden abwickeln. Dabei werden in großem Umfang Daten und Informationen elektronisch erfasst und gespeichert. Das ist prima. Doch es verbessert offenbar unsere Fähigkeit, zuverlässige Prognosen über die Marktentwicklung zu erstellen, nicht.

Die Theorie ist tot. Es lebe die Technologie!

.Im Jahr 2008 kündigte der Chefredakteur des Magazin Wired, Chris Anderson, das Ende der wissenschaftlichen Methode an[4]: Sie würde zukünftig durch die Datenmassen überflüssig werden. Warum schlechte Modelle verwenden, wenn man gar keine Modelle verwenden muss, fragte Anderson. Mit Big Data reicht die Korrelation vollkommen aus, so Anderson, keine Kausalität und keine Semantik seien mehr notwendig. Sehr verkürzt gesagt: Mit genügend Zahlen sprechen Daten für sich selbst. Und doch geht das Versprechen, man müsse nur genügend Daten haben, um alle Probleme zu lösen, nach wie vor nicht auf. Nicht nur bei den Marktprognosen, auch bei Naturkatastrophen oder Wettervorhersage – und bei so trivialen Themen wie autonomes Fahren auch nicht. Obwohl ein Fahrzeug, das heute die Fabrik verlässt, mit im Durchschnitt ca. 100 Sensoren ausgestattet ist, die unermüdlich Daten erfassen, können Autos immer noch nicht fliegen.

Dabei ist es bei computergestützten Datenauswertungen, automatischen oder algorithmischen Entscheidungen die Wissenschaft – die Analyse, das Aufstellen von Vermutungen, Hypothesen, Annahmen, die Theorie – also genau das, was ein repräsentatives Ergebnis von einem Haufen nutzloser Zahlen unterscheidet. Und solange es keine zuverlässigen Theorien gibt, wenn nicht mehr Zeit und Ressourcen in die Erforschung der Mechanismen des Marktes – auch des Aktienmarktes – und das Aufstellen neuer Modelle aufgewendet wird, könnte man sich genauso gut diese ganze Datensammlerei ersparen und direkt Nostradamus konsultieren.

Natalia Marszałek
Aleksandra Sowa

[1] https://boerse.ard.de/boersenwissen/boersenlexikon/hindenburg-omen100.html (Zugriff am 6.1.2019) [2] Buschmann, G., Doll, F. und Riedl, A. 2018. „Haben Sie ein Gefühl für die Börse?“, in: WirtschaftsWoche 44 (26.10.2018), S. 81. [3] Vgl. Buschmann, G., Doll, F. und Riedl, A. 2018. „Haben Sie ein Gefühl für die Börse?“, in: WirtschaftsWoche 44 (26.10.2018), S. 80. [4] Anderson, C. 2008. „The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scietific Method Obsolete“, in: Wired, 23.8.2017, https://www.wired.com/2008/06/pb-theory.

Dieser Inhalt ist urheberrechtlich geschützt. Jede Weiterverbreitung ohne Genehmigung des Autors ist untersagt. 26/01/2019