Jan ROKITA: Polnischer Universalismus

Polnischer Universalismus

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Jan ROKITA

Politischer Philosoph. Oppositioneller in der Volksrepublik Polen, später Abgeordneter im Sejm.

Ryc.: Fabien CLAIREFOND

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.Nicht alle europäischen Nationen besitzen in ihrem Nationalcharakter einen starken Zug des politischen Universalismus. Auf das diesbezüglich älteste und eindeutigste politische Erbe blickt Deutschland zurück, das seit der Ausrufung des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 962 acht Jahrhunderte lang die Idee der politischen Einheit Europas förderte. Diesen deutschen Universalismus besang etwa Dante in den berühmten Strophen der Göttlichen Komödie, in denen er die tragische Gestalt des Kaisers Heinrich VII. verherrlichte. Der deutsche Universalismus war seit jeher stark richtungsweisend für die Geschichte Europas und prägte das wohlbekannte, für andere Nationen zuweilen problematische deutsche Verantwortungsgefühl für die Geschickte des gesamten Kontinents. Ohne das Wesen dieses deutschen Phänomens zu verstehen, kann man die heutige Europäische Union kaum begreifen.

Nicht viel jünger sind allerdings zwei weitere europäische Universalismen, die fälschlicherweise für weniger bedeutend weil peripher gehalten werden: der skandinavische und der polnische. Historisch betrachtet sind sie in der großen Umbruchszeit vom Mittelalter zur Neuzeit verwurzelt. Zwei im 14. Jahrhundert geschlossene Vereinigungen – geschlossen zum einen auf der schwedischen Burg Kalmar, zum anderen auf der belorussischen Burg Krewo – markieren den Beginn jener beiden für Europa äußerst wichtigen Universalismen. Die Union von Kalmar bildet bis heute den Bezugspunkt für das tief empfundene politische Gemeinschaftsgefühl, das wir tagtäglich in Skandinavien beobachten können. Die Union von Krewo ließ wiederum das langlebigste, da vier Jahrhunderte bestehende, riesengroße mittel-osteuropäische Reich als politisches Staatsgebilde der Polen, Ukrainer, Belorussen und Litauer entstehen. Das Einzigartige ihrer Staatlichkeit beruhte darauf, dass dadurch in weiten Teilen Osteuropas (bis zu dem heutigen, blutig umkämpften Donbass) eine für jene Zeit unerhörte politische Ordnung aus Adelsdemokratie, Rechtlichkeit und religiöser Toleranz eingeführt wurde. Aus geschichtlicher Perspektive kann man sagen, dass allein durch das Bestehen einer solchen Union sowohl die östlichen tatarischen Despotien, welche im Mittelalter das gesamte Osteuropa dominierten, als auch das gerade im Aufbau befindliche Moskauer „самодержавие“ (dt. Alleinherrschaft) weit zurückgedrängt wurden. Die „Rzeczpospolita“, wie die damaligen Menschen ihren Staat nannten, bildete daher für lange Zeit eine Art „Sicherheitszone“ und ermöglichte so die zivilisatorische Entwicklung Mittelosteuropas. Als im 18. Jahrhundert dieser vereinte Staat keine Sicherheit mehr garantieren konnte, trat für die Polen, Ukrainer, Belorussen und Litauer eine Katastrophe ein. Für lange Jahre gerieten sie unter das Joch einer Tyrannei, der nicht nur die Idee eines freien Individuums fremd war, sondern die danach trachtete, diese Völker zu vernichten und ihrer eigenen Identität zu berauben.

Unabhängig von Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen, welche die vier vereinigten Nationen führten, prägten die vier gemeinsamen Jahrhunderte ihren jeweiligen Nationalcharakter. Darin hat die polnische „Solidarność“, die im ausgehenden 20. Jahrhundert das neue Gesicht Europas entscheidend beeinflusste, ihre Wurzeln – ähnlich wie die heldenhafte Verteidigung ihrer Freiheit durch die heutige Ukraine, die sich gegen einen weiteren russischen Überfall wehrt. Jene die damalige große „Rzeczpospolita“ bildenden Nationen haben nämlich in der langen Zeit gelernt, dass sie ihre Existenz einbüßen können, wenn sie sich nicht erfolgreich gegen die ihnen aus dem Osten ununterbrochen drohende Gefahr verteidigen werden. Deshalb streben sie gegenwärtig danach, die „Sicherheitszone“ der damaligen gemeinsamen Staatlichkeit wieder zu errichten. Anders wären die erfolgreichen Bemühungen Polens und Litauens um die Aufnahme in die Nato bereits in den 1990er Jahren kaum zu verstehen, schien doch damals der europäische Frieden dauerhaft zu sein und Moskau auf dem Weg der Annäherung an westliche Standards. Genauso wenig verständlich wären sonst auch die Worte von Präsident Selenskyj, der dazu aufruft, der Ukraine endlich eine Nato-Perspektive zu eröffnen.

Der nun wiedergeborene osteuropäische Universalismus bedeutet ein unschätzbares Erbe der damaligen Union. Mitnichten war der Zeitpunkt zufällig, in dem sich die Ukrainer endgültig entschlossen, die russische Dominanz abzuwerfen: Sie taten das, als ihr moskauhöriger Präsident versuchte, den EU-Kandidatenstatus ihres Landes zu torpedieren. Darin ist der Ursprung der Maidan-Revolution von 2013 und im Endeffekt der späteren russischen Invasion zu sehen. Es passiert in der Tat selten und ist bezeichnend, dass ein um seine nationale Souveränität kämpfendes Volk zugleich derart stark die Beteiligung an einer übernationalen politischen Ordnung anstrebt: einer durch die Demokratien Europas und Amerikas geschaffenen Nachkriegsordnung. Die Erfahrung der damaligen übernationalen „Rzeczpospolita“ ist es, welche den Ukrainern sagt, dass ohne eine universalistische Sicherheitsordnung in Osteuropa ihre freie Ukraine einmal mehr nicht von Dauer sein wird, sondern sich als bloßer „Saisonstaat“ entpuppen kann.

Was Polen betrifft, könnte man die Worte Thomas Manns paraphrasieren und auf Polen beziehen, die er über die deutsche Nation formulierte: „Was polnisch ist, bedeutet insbesondere das Überpolnische.“ Der polnische Universalismus ähnelt zum Teil dem deutschen, nur dass er seinen Blick stets nach Osten richtet. In der polnischen Tradition bezeichnet man ein solches politisches Denken zuweilen als prometheisch. Dieser in Polen seit Jahrhunderten sehr verbreiteten Überzeugung zufolge sei die polnische Sicherheit mit derjenigen ganz Osteuropas identisch. Der in der polnischen Überlieferung berühmte Spruch „Für eure und unsere Freiheit“ drückt ebendiese, im Grunde sehr pragmatische Überzeugung aus.

.Aus dem Grunde gibt es aus polnischer Sicht heute keine bedeutendere Frage der europäischen Politik als die folgende: Wird Osteuropa und insbesondere die Ukraine infolge des gegenwärtigen Krieges endgültig in die europäisch-atlantische Sicherheitszone aufgenommen? Das westliche Bündnis erfüllt heutzutage die gleiche Aufgabe in Bezug auf Sicherheit und zivilisatorische Entwicklung, wie die „Rzeczpospolita“ der Polen, Ukrainer, Belorussen und Litauer sie vor Jahrhunderten erfüllte. An dieser Stelle sei unumwunden gesagt: Sollte infolge des gegenwärtigen Krieges jenes amerikanisch-europäische, Freiheit und Sicherheit garantierende Bündnis nicht in östliche Richtung erweitert werden, käme das einer historischen Niederlage des gesamten osteuropäischen Universalismus gleich. In Kategorien eines politischen Morgens gedacht, würde nicht nur die Ukraine, sondern auch Polen diesen Krieg schändlich verloren haben. Und zwar unabhängig vom weiteren Verlauf der Kriegshandlungen.

Jan Rokita

Dieser Inhalt ist urheberrechtlich geschützt. Jede Weiterverbreitung ohne Genehmigung des Autors ist untersagt. 03/05/2023